Neuanfänge, Umbrüche, Tabubrüche? Japan in unsicheren Zeiten
Recherchereise nach Japan im Juni 2025
Von Jana Niehoff

Schon der Blick aus dem Flieger beim Landeanflug auf Tokio ist beeindruckend. Wer glaubt, von weit oben sehe selbst ein 37 Millionen Einwohner:innen starker Ballungsraum winzig aus, der irrt. Unzählige kleine Dächer, aneinandergereiht, Wolkenkratzer, Bahn-Stationen, dazwischen ein paar Felder, Straßen, Autos, die links fahren. Nach der Landung folgt eine kurze Bahnfahrt vom Flughafen ins Stadtinnere. Tokio, gesehen auf Augenhöhe, bedeutet dicht an dicht gedrängte graue, flache Häuser, getrennt von schmalen Gassen. Tempelanlagen und Parks lassen etwas Raum zum Atmen, sind aber umringt von Wolkenkratzern und leuchtenden Türmen mit schrill-bunten Reklametafeln. In den U-Bahn-Stationen laufen die Menschen „im Stechschritt“, es scheint als hätten alle möglichst schnell irgendwo zu sein. Tokio ist riesig, dicht besiedelt, eine gigantische Mega-Metropole – und sehr leise.
Das fällt uns sofort auf. In Zügen und Bahnen spricht man am besten gar nicht, oder man flüstert. Niemand hört auf der Straße laut Musik oder ruft durch die Gegend; abseits der Hauptstraßen, in den kleinen Wohnvierteln hört man vor allem die eigenen Schritte. Vielleicht fallen uns die vielen Japan-typischen Geräusche, die zusammengenommen eine Art Hintergrundmelodie Tokios ergeben, auch deswegen so schnell auf: Klackernde Ampeln, piepende Pasmo-Karten, wenn wir durch die U-Bahn-Stationen laufen, das „Dümdümdümdümdümdüm-dümdümdümdümdüm“ der Konbinis (24/7-geöffnete Mini-Supermärkte), gefolgt von einem いらっしゃいませ! („Irashaimasse!“, heißt soviel wie „Willkommen!“ und wird verwendet, um Kund:innen zu begrüßen).
Auf dem Weg in unser Hotel teilen wir unsere ersten Eindrücke: „Warum reden so viele Maschinen mit mir?“ „Ich brauche noch einen Adapter!“ „Ich werde ALLES im 7/11 probieren!“ Und eben: „Tokio muss die leiseste Großstadt der Welt sein.“
Tokio kann aber auch laut. Das zeigt uns der erste Abend. Wir sind verabredet in einem „Izakaya“, einer japanischen Kneipe, mit deutschen Auslandskorrespondenten, die aus Japan berichten. Und so leise uns die Großstadt bei unserer Ankunft vorkam, so gegensätzlich zeigt sie sich uns bei Nacht. Auf zwei Tische verteilt schreien wir uns Fragen entgegen, beugen uns vor, um die Antworten zu verstehen. Es riecht nach japanischem Streetfood, Bier und Zigaretten (in Japan darf man vor allem IN Bars und Kneipen rauchen, draußen einen Spot zu finden ist nicht so einfach). Tokio, merken wir, hat zwei Gesichter. Tagsüber scheinen die Stadt und ihre emsigen Bewohner:innen einen immerwährenden Rhythmus gefunden zu haben, abends wird dieser durchbrochen von lautem Lachen, All-you-can-drink-Angeboten und Feierabendstimmung.

Tag 2
„Everybody is talking about security, no one is talking about peace.”
Unsere Tage hier in Tokio sind eng getaktet. 08:30 Uhr Treffen in der Hotel-Lobby, Transfer zur Sophia-Universität, dort dann im Rahmen der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Gespräche über japanische Erinnerungskultur, Energie-, Außen- und Sicherheitspolitik, anschließend ein Besuch in einem Schrein, dann ein Spaziergang durch den Stadtteil Akihabara. So steht es in dem detaillierten Reiseplan, den die Organisatoren uns zugeschickt haben. Gut, dass die Sophia-Uni einen campuseigenen 7/11 hat. Mit Onigiri (japanische Reisbällchen), Sandwiches, Melonpan (süße Brötchen) und Tofu-Bar im Magen startet es sich besser in den Tag.
Und der ist spannend: Sven Saaler, Leiter der FES in Japan und außerdem Professor für moderne Geschichte an der Faculty of Liberal Arts der Sophia-Universität berichtet von der japanischen Erinnerungspolitik, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Darauf folgt ein Vortrag von Mika Obayashi, Vertreterin der Renewable Energy Foundation: „Aktuelle Herausforderungen der japanischen Energiepolitik“. Die Organisation ist entstanden nach dem Tsunami und der folgenden Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011. Ein Thema, das uns auf der Reise begleiten wird. Mika Obayashi sagt, ohne die Katastrophe würde Japan sich heute noch viel stärker auf Atomkraft verlassen. Dass es Menschen gibt, die diese Art der Energiegewinnung unterstützen, kann sie nicht verstehen.
Die Vortragsreihe schließt (nach einem großartigen Sashimi-Mittagessen) mit dem von Rechtsanwältin Sayo Satura über Frieden und Sicherheit in Japan. Satura beobachtet weltweit folgendes Phänomen: „Everybody is talking about security, no one is talking about peace.” Wie aber kann Frieden wieder mehr in den Mittelpunkt rücken, wenn die Bemühungen um Sicherheit oftmals Wettrüsten und ansteigende Demonstration militärischer Stärke bedeuten? Sollte Japan mit der traditionellen Nähe zu den USA brechen? Spannende Fragen, die wir diskutieren, vor dem Hintergrund Japans in einem geopolitisch angespannten Umfeld, umringt von Akteuren wie Nordkorea, Russland und China, besorgt um die wenig berechenbaren USA unter Trump.
Tag 3 & 4
„I moved to Futaba because I think that I am responsible for their suffering.”
Futaba, gelegen in der Präfektur Fukushima, ist eine Geisterstadt. Oder zumindest war sie das – bis die japanische Regierung 2020 entschied, dass die Strahlenbelastung in dem kleinen Ort westlich des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi mittlerweile so gering sei, dass er wieder besiedelt werden könne.
Als wir in Futaba ankommen, sehen wir beim Blick aus der Bahn zwei kleine Mädchen, die in einem Vorgarten tanzen. Der kleine Ort fühlt sich ein bisschen surreal an – vor allem steht er in starkem Kontrast zum riesigen, bunten Tokio, in dem wir aufgewacht sind. Ein kleiner Bahnhof, ein Gemeindezentrum, ein Bahnhofsvorplatz. Mehr sehen wir erstmal nicht. Aber wir hören etwas: Die Melodie von „Under the Sea“, dem Soundtrack von Disneys „Die kleine Meerjungfrau“, dazu Gesang auf Japanisch. Vor einem kleinen (dem einzigen) Café sitzt ein junger Mann am Klavier und spielt die Melodie, eine Frau in seinem Alter singt dazu. Kinder spielen um sie herum, Erwachsene hören zu. Wir gehen zu den Menschen und kommen ins Gespräch. Heute, gleich in einer Stunde wird hier eine Kinder-Tanzgruppe auftreten. Sie tanzen zu einem Lied, das die Choreografin eigens für den Ort Futaba komponiert hat. Die zwei Mädchen, die wir aus dem Zug tanzen gesehen haben, haben dafür geprobt. Der Auftritt soll gefilmt und ins Netz gestellt werden, mit einer Message: Das hier ist ein Neuanfang, in Futaba kann man wieder leben. Das Café, vor dem die Gruppe auftreten wird, hat gerade erst neu eröffnet. Und für heute hat es kein warmes Essen mehr. Wir werden trotzdem hereingebeten, bekommen süße Teilchen und Kaffee serviert. Und Süßkartoffelpommes-Chips geschenkt, in Plastiktüten, auf denen „Futaba“, mit Herzchen-Symbol versehen steht.
Als die Gruppe tanzt, holen nicht nur wir unsere Kameras und Mikrophone heraus. Die lokale Presse filmt auch. Denn es ist mehr als „nur“ ein Tanzauftritt von ein paar Kindern. Es ist eine Einladung, „schaut her, so ist das Leben in Futaba, wir sind keine Geisterstadt mehr“.
Die Begegnungen mit den Menschen vor Ort kamen für uns unerwartet. Dass Futaba uns so lebhaft empfängt, leitet unseren Besuch hier aber treffend ein. Wir sprechen weniger über den Moment der Katastrophe und die Tage danach, wir fokussieren uns auf das Hier und Jetzt: Wie kann Futaba wieder lebenswert gemacht werden? Welche bürokratischen Hürden gibt es? Und wie bitte überzeugt man Menschen davon, in das Zentrum des kontaminierten Strahlengebiets zu ziehen, in dem es Stand jetzt deutlich mehr verfallene, unbewohnbare Häuser gibt als solche, in denen man leben kann?
Denn so lebhaft der Empfang auch war, auf dem Weg zum Hotel sehen wir die Spuren des Tsunamis und der Reaktorkatastrophe von 2011 deutlich. Häuser, dicht bewachsen mit Unkraut und Löchern im Dach, sehen noch genauso aus wie zu dem Zeitpunkt der Katastrophe. Durch offene Türen können wir in sie hineinschauen und sehen Stofftiere auf Sesseln, Bilder am Boden und Stühle und Tische umgekippt liegen. Tokio kam uns leise vor, Futaba ist kein Vergleich. Keine Geräusche, außer unseren Schritten und dem Wind in den Bäumen. Unser Hotel liegt nur wenige Minuten Fußweg vom neuen Deich entfernt. Dieser soll die Menschen in Futaba vor zukünftigen Tsunamis schützen – damit eine solche Katastrophe mit insgesamt 167 Toten und vier Vermissten nicht noch einmal passiert.

In Futaba lebten bis März 2011 fast 7000 Menschen. Einer, der jetzt neu hergezogen ist, ist Tatsuhiro Yamane. Er lebte in Tokio, brachte seine Frau und seine Töchter mit nach Futaba. Als Unternehmer und Lokalpolitiker versucht er jetzt, die Stadt wieder lebenswert zu machen. Warum zieht jemand aus der Großstadt an einen Ort, der nahezu unbewohnbar ist, an dem die Strahlenbelastung zwar als ungefährlich gilt, aber so richtig ungefährlich ist es ja dann vielleicht doch nicht…? Er sei in der Großstadt aufgewachsen, erzählt Yamane bei unserer Führung durch Futaba. Und er habe nicht gewusst, dass Großstädter wie er auf die Energie aus den Atomkraftwerken in den Kleinstädten angewiesen gewesen seien. Für das, was 2011 passierte, fühle er sich mitverantwortlich. Und deswegen sei er jetzt hier, um seine Schuld zu begleichen.
Worte, die noch in uns nachhallen, als wir uns auf den Rückweg nach Tokio machen.
Was uns in Futaba gefehlt hat, das bekommen wir in Tokio in hundertfacher Ausführung zurück: Menschenmassen. Kaum angekommen, besuchen wir das Torigoe Matsuri, ein Festival, bei dem ein großer Schrein durch Tokios Straßen getragen wird. Die Stimmung ist ausgelassen, ausnahmsweise rauchen und trinken viele Zuschauer:innen auf der Straße. Und als der Schrein an uns vorbeigezogen ist, öffnet sich der Weg zu den Streetfood-Ständen des Festivals – für uns das „Go“ alles zu probieren, was irgendwie geht: Okonomiyaki (herzhafter Pfannkuchen), Takoyaki (mit Oktopus gefüllte Teigbällchen), Süßkartoffel, überzogen mit Zucker, mit Käse gefüllte Teigtaschen, gegrilltes Fleisch.
Wir hören erst auf zu essen als wir so satt sind, dass die Neugier auf den Geschmack das Sättigungsgefühl nicht mehr übertönt. Und lassen uns dann einladen, von und zu Motockney Nuquee, kurz „Moto“, einem Journalisten aus Tokio, der uns immer wieder als Dolmetscher hilft. In seinem Haus trinken wir Bier und Pflaumenwein und probieren „Jika-Tabi“ an (Schuhe, die den großen Zeh von den anderen separieren, traditionell beim Torigoe Matsuri getragen und in Deutschland gerade gehyped werden). Danke Moto, für deine Gastfreundschaft (und für das Paar Jika-Tabi und den Pflaumenwein, den du uns geschenkt hast).
Tag 5
„Don Don Don Don Qui, Don Qui, Do-hon Quiiii”
Heute geht es um Wasserstoff und darum, welche Rolle er für Japans Energiewende spielt. Dafür sind wir zu Besuch bei Asahi Kasei, einem japanischen Technologieunternehmen, das von Autozubehör, Pharmazeutika und Lithiumbatterien bis hin zu Kunststoffen und Kunstfasern so ziemlich alles in der Produktpallette hat. Nach einem ersten Briefing zum Unternehmen in einem der vielen Hochhäuser Tokios und anschließender kurzer Fotosession (der Blick auf den Kaiserpalast von so weit oben ist spektakulär), fahren wir ins Industriegebiet nach Kawasaki, um den Elektrolyseur zu sehen und den Expert:innen vor Ort Fragen zu stellen. Ausgestattet mit Helmen, aber ohne Kamera und Mikrophone dürfen wir einen Blick werfen hinter die Kulissen des Riesen-Unternehmens und auf die Zukunft von Wasserstoff in Japan.
Der Abend gestaltet sich bunt. Ja, wir empfinden Japan, ganz besonders Tokio, immer noch als leise. Aber neben den lauten Izakayas gibt es in der Stadt noch eine weitere Stille-Ausnahme: Das Vergnügungs- und Ausgehviertel Shinjuku. Schrille Leuchtreklame, bunte Plakate, sprechende Maschinen, riesige Videoleinwände und sich bewegende 3D-Häuser-Fassaden. Der Westen Tokios ist vor allem eins: bunt. Ein krasser Kontrast zu den vielen grauen und kleinen Häusern der Stadt, die wir bisher gesehen haben. In der Dunkelheit strahlen die japanischen Schriftzeichen auf den leuchtenden Häuserfassaden in Form von Restaurant-Namensangaben, Werbung und Love-Hotels (einfach selbst googeln, was das ist) miteinander um die Wette.
Und aus dem Meer dieser Lichter scheint der Schriftzug eines Geschäfts ganz besonders hervor: Rot-Gelb-Blau leuchten die Zeichen ドン・キホーテ uns entgegen: „Don Quijote“ ist ein Discounter, in dem es so ziemlich alles gibt (außer Platz): japanische Snacks, Merchandise-Artikel, Haushaltswaren, Kosmetikartikel, Elektronik… Der Store in Shinjuku erstreckt sich über mehrere Stockwerke und so ziemlich in Dauerschleife ertönt die bekannte Geschäftsmusik aus den Boxen im Kaufhaus: „Don-Don-Don-Don-Qui, Don-Qui, Do-hon-quiiiii“, singt eine Frauenstimme. Für uns ist der Ort eine kognitive Herausforderung, so viele Eindrücke wie dort zeitgleich auf uns einprasseln. Aber er ist auch perfekt, um Reisemitbringsel und Souvenirs zu shoppen. Wir machen uns also als Gruppe auf ins Gefecht – und finden uns erst neunzig Minuten später vor dem Laden wieder. Zum Glück ist niemand verloren gegangen.

Tag 6, 7 & 8
„Die Toiletten sind hier so viel besser als in Deutschland…das Toilettenpapier aber nicht.“
Die Tage gehen rasend schnell vorbei – nicht zuletzt, weil wir einen so vollen Terminkalender haben, dass unsere Organisatoren uns die Uhrzeiten, wann wir wo (und mit wie viel Frühstück im Gepäck) unbedingt zu sein haben, immer wieder durchgeben müssen. Aber: Die Termine lohnen sich. Im Deutschen Institut für Japanstudien erfahren wir mehr zu Genderrollen in japanischen Videospielen (inklusive einiger sehr interessant klingender Anime- und Mangatipps der Referentin Christina Polak-Rottmann), wir besprechen die wirtschaftliche Lage Japans vor dem Hintergrund seiner Exportabhängigkeit in Zeiten von Trump und Xi, der alternden Gesellschaft und Migration mit Franz Waldenberger und von Torsten Weber erfahren wir, was beim Massaker in Nanjing wirklich passiert ist – und was uns die „Aufarbeitung“ Nanjings über die japanische Erinnerungskultur lehrt. Auch die deutsche Botschaft empfängt uns – „unter drei“, schade eigentlich.
Hatten wir bereits viele kritische Stimmen zur Atomkraft gehört, wurde es ob der journalistischen Bemühung um eine ausgewogene Berichterstattung Zeit für die andere Seite. Nobuo Tanaka, der ehemalige Vorsitzende der International Energy Agency (IEA) (gilt als atomfreundlich), schilderte uns seine Meinung zur Atomkraft in Japan. An der solle man festhalten, inklusive engerer Zusammenarbeit mit Südkorea.
Auf unserer Reise stellten wir viele Fragen, zu neuen Themen, an neue Gesprächspartner:innen. Dass es zur Abwechslung mal wir waren, die sich im Keizai Koho Center den Fragen der (überwiegend) japanischen Unternehmensvertreter:innen stellen mussten, war für uns entsprechend ungewohnt. Nach einer Präsentation zum Thema „Derisking of German supply chains and markets from the US and China” hatten die rund 25 geladenen Anwesenden die Möglichkeit, nach unserer Sicht auf die Dinge zu Fragen.
Die umgekehrte Rollenverteilung war nicht nur ungewohnt. Dass Unternehmen die Fragen stellen dürfen, war vielleicht sinnbildlich für den Journalismus, der in Japan – obschon demokratisch – aufgrund verschiedener Faktoren (Existenz von „Presseclubs“ und ein damit einhergehender vorrangiger Informationszugang mancher Medien, Anti-Presse-wirksame Gesetze) als nur begrenzt frei gilt. Nicht umsonst liegt das Land aktuell auf Platz 66 von 180 im Pressefreiheits-Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ – und ist damit unter den G7-Mitgliedsstaaten am schlechtesten platziert.
Warum eine wirksame Medienöffentlichkeit wichtig ist, darum ging es auch im folgenden Gespräch mit Narushige Michishita. Mit ihm diskutierten wir Japans Verteidigungs- und Sicherheitsstrategie. Und lange ging es dabei um die Frage, wie Japan sich im Ernstfall verteidigen soll: China greift Taiwan an, die USA tritt ins Kriegsgeschehen ein oder aber entscheidet sich, Japans Selbstverteidigungsstreitkräfte in Zukunft weniger zu unterstützen.
Das Land, das offiziell kein eigenes Militär hat und sich in seiner Verfassung zum Pazifismus bekennt, rüstet derzeit so stark auf, wie lange nicht. Für viele ein Tabubruch. Nur was bringen viele Waffen und Panzer, wenn die niemand bedienen will? Japans Jugend hat keine Lust auf Militär, kaum jemand möchte den Selbstverteidigungsstreitkräften beitreten. Die Lösung? Könne die Bildung der Bevölkerung sein, die müsse mehr über die Aufgaben als Soldat:in und die aktuellen Problemlagen Japans im geopolitischen Kontext erfahren, sagt Michishita. Die Medien könnten da eine entscheidende Rolle spielen.
Den Abend schließen wir mit einem Vorgeschmack auf den kommenden Tag: einem Toiletten-Rundgang. Wer von Deutschland nach Japan reist, der steht möglicherweise schon am Flughafen vor einer ersten großen Herausforderung: Wie bitte bediene ich diese Toilette?! Dass Japan bekannt ist für seine „Toiletten-Kunst“ ist kein Geheimnis. Spätestens seitdem der Film „Perfect Days“ von Wim Wenders im Kino lief, werden japanische Toiletten weltweit diskutiert. Grund genug für uns, einige der im Film gezeigten Toiletten zu besuchen. Die waren ursprünglich dazu gedacht, das Angebot öffentlicher Toiletten in Tokio attraktiver zu machen, gelten jetzt aber als Touri-Attraktion. Vielleicht ein Grund, warum es in den sonst immer so sauberen öffentlichen WCs doch ein bisschen gestunken hat…

Der wahrscheinlich bekannteste Toilettenhersteller Japans ist die Firma Toto. Und die empfängt uns (samt Reisegepäck, denn am Abend geht es weiter nach Osaka) in ihren Ausstellungsräumen und zeigt uns, wie viel Kreativität und Kunst in einem angenehmen Toilettengang stecken kann. Und sie verdeutlicht auch, warum neben all den lustigen, teils auch skurrilen Klo-Ausstattungen (Düsen in der Toilettenschüssel, die das Gesäß mit Wasser absprühen, warme Klobrillenränder, die den WC-Besuch noch angenehmer machen) das Thema Inklusion (sowohl was Menschen mit Behinderung als auch Menschen fortgeschrittenen Alters angeht) bei Toiletten eine wichtige Rolle spielt.
In Totos Forschungszentrum bekommen wir eine Ausstattung aus Gewichten zum Anziehen, die uns in punkto Mobilität mal eben um rund 50 Jahre altern lässt. Mit den Gewichten sollen wir die Sanitäranlagen Totos ausprobieren und so feststellen, wie viel inklusiver und leichter zu handhaben diese mit der Zeit geworden sind. Danach steht für uns fest: Japan hat zwar ein Problem mit einer überalternden Gesellschaft, die selbst aber keins mit dem Gang auf die Toilette.
Tag 9 & 10
„リンダ リンダ リンダ リンダ リンダ“ („Linda Linda Linda Linda Linda)
Osaka hat einen anderen Vibe als Tokio. Die Stadt gilt als „die coolste“ in ganz Japan – und das merkt man. Menschen rauchen auf der Straße, es wird laut gelacht und die „Sei-leise-im-Zug-Etiquette“ gilt hier irgendwie auch nicht ganz so sehr wie in der Hauptstadt.
Wir sind angereist für die EXPO – die Weltausstellung findet derzeit nämlich in Osaka statt. Am Abend vorm EXPO-Besuch erleben wir noch ein weiteres Highlight: In einer Karaoke-Booth (einem Raum, den man bucht und privat nur mit der Gruppe nutzt) stellen wir der Reihe nach (manche reihen sich mit chinesischen Liebesliedern ein wenig häufiger ein als andere) unsere Gesangskünste unter Beweis – und krönen den Song „リンダ リンダ“ („Linda Linda“) der japanischen Punkband „The Blue Hearts“ zum offiziellen Soundtrack der Reise.
Zur Überraschung der Gruppe ist der deutsche Pavillon auf der EXPO ein Highlight. Ein Teilnehmer fasst die Ausstellung mit einem Augenzwinkern so zusammen: „Der deutsche Pavillon wirkte so modern und futuristisch, der hat mich gar nicht an Deutschland erinnert.“
Unseren letzten richtigen gemeinsamen Abend feiern wir in Osaka. Im Ausgehviertel Dotonbori essen wir traditionelles Okonomiyaki – herzhafte Pfannkuchen, die direkt vor uns gebraten werden. Gesättigt folgt ein Spaziergang am Kanal entlang. Und Osaka beweist, dass es Tokio in Sachen Leuchtreklame in Nichts nachsteht. Der anschließende Karaoke-Besuch verläuft ruhiger als in der Nacht zuvor – weil sich alle der frühen Abreise am kommenden Tag bewusst sind. Und, weil manche sich schon am Vorabend die Stimme weggesungen hatten.
Tag 11
„じゃ、またね“
Auch wenn einige von uns für eigene Recherchen oder um Freund:innen und Bekannte zu treffen ein paar Tage länger bleiben – die gemeinsame Reisezeit endet heute, der Großteil der Gruppe verabschiedet sich zum Flughafen Haneda.
Ein langer Reisetag steht uns bevor: morgens Abfahrt in Osaka, zurück nach Tokio. Dann ein Besuch der künstlichen Insel Odaiba (inklusive Gruppenbild vor der riesigen Gundam-Statue), dann die Verabschiedungen. Dann der Rückflug.

じゃ、またね,ausgesprochen „Ja, matane“, heißt so viel wie „Bis bald“, drückt durch das hinten stehende „ne“ eine „stärkere Bindung oder engere Beziehung aus als ein einfaches „Ja, mata“, und wird deswegen in informellen Situationen unter Freund:innen und Bekannten verwendet“. Keine Gewähr für diese Angaben, sie sind einer Japanisch-Lernseite entnommen. Zurufen tun wir uns das じゃ、またね trotzdem. Weil wir als Gruppe in der Zeit nicht nur einen enormen Erkenntnisgewinn an Fakten über Japan, seine geo- und sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und energiethematischen Bereiche gewonnen haben, sondern auch eine Gemeinschaft an jungen Journalist:innen, die sich für die Region interessieren. Das und die gemeinsamen Erlebnisse sind doch ein guter Grund, sich nicht mit „左様なら“(„Sayonara“) zu verabschieden (denn „dieser Ausdruck bedeutet meist eine endgültige Trennung“), sondern, wie erfolgt, mit einem じゃ、またね – bis bald, ob in Japan, Deutschland oder irgendwo auf der nächsten Recherchereise.
Die Reise wurde von folgenden Organisationen und Unternehmen finanziell unterstützt: Friedrich-Ebert-Stiftung, Henkel AG, Asahi Kasei und Toto.
Die Organisatoren waren Felix Lill (freier Journalist), Finn Mayer-Kuckuck (Süddeutsche Zeitung Dossier) und Dirk Liesemer (freier Journalist).