Wahlen im Schatten des großen Bruders

Recherchereise nach Taiwan im November 2015

Text: Silke Weber – Foto: Antje Binder

Quelle_Antje_BinderTaiwan, eine Insel mit 23 Millionen Einwohnern, so groß wie Baden-Württemberg, muss man sich ein bisschen wie eine Mischung aus Japan und China vorstellen und ihre Bewohner wie die Schwaben Asiens. Vom 13. bis 24. November 2015 bereisten zehn Journalisten das kulturelle, wirtschaftliche und politische Zentrum des Landes: die Hauptstadt Taipeh.

Am 16. Januar 2016 sind Wahlen in Taiwan und Wahlkampf in Taiwan ist auch ein riesiges popkulturelles Ereignis, da waren Besuche bei den größten Parteien, der Democratic Progressive Party (DPP) und der Kuomintang Party (KMT), oder einer Wahlkampfveranstaltung natürlich verpflichtend. Übrigens ist es sehr leicht, sich in ein politisches Gespräch mit Taiwanern zu verwickeln, denn das Land ist tief gespalten: in das blaue Lager der KMT und das grüne der DDP, die sich vor allem in der Frage der Beziehungen zu China unterscheiden.

Obwohl Taiwans Geschichte tief in der chinesischen Kultur verwurzelt ist, unterscheidet sich Taiwan heute doch recht stark von China. In den letzten Jahren hat sich das Selbstbild der Taiwaner rasch verändert. Nach einer Studie der National Chengchi University, hat sich die Zahl derer, die sich als Taiwaner bezeichnen, seit 1992 mehr als verdreifacht, während die Zahl derer, die sich ausschließlich als Chinesen verstehen, auf rund 3 Prozent gesunken ist.

Als sich Ende 2015 die Staatschefs Ma Ying-jeou und Xi Jinping trafen, haben die Zeitungen die Bilder der Protestler gegen die Annäherung auf den Titelseiten gedruckt. Einige Monate zuvor haben taiwanische Schüler das Bildungsministerium in Taipeh wegen eines Schulbuches gestürmt, das aus ihrer Sicht zu prochinesisch formuliert ist. Und im Jahr davor haben Studenten der sogenannten Sonnenblumenbewegung wochenlang das Parlament besetzt, da die taiwanesische Regierungspartei KMT ihrer Meinung nach die Beziehungen zu China verherrlicht. Wir konnten diese Schüler und Studenten, die Teil einer globalisierten modernen Jugend sind, treffen.

Apropos global: Taiwan gehörte zu den Tigerstaaten der ersten Stunde. Zusammen mit den ostasiatischen Staaten wie Singapur und Malaysia zählte Taiwan zu den allerersten Akteuren der Globalisierung – wahrscheinlich noch bevor das Wort überhaupt bekannt war.

Schon in den 1970er Jahren hatte man dort eine Industrie aufgebaut, während China noch ein weitgehend ärmliches, bäuerliches Land war. Die Insel kämpfte sich vom einstigen Agrarstaat nach oben und erzeugte schließlich pro Kopf das gleiche Bruttoinlandsprodukt wie Deutschland. Eine Studie der Asian Development Bank sieht Taiwan, noch vor Hong Kong und Japan, an der Spitze der wissensbasierten Volkswirtschaften in Asien. Viele High-Tech-Unternehmen sind dort angesiedelt – rund 80 Prozent taiwanischer Exporte stammen aus der IT-Industrie. Und auch eine junge Start-Up-Szene hat sich in den letzten Jahren entwickelt, auch sie und ihre Gründer haben wir uns näher angeschaut. Aber Taiwans Technologie-Industrie muss sich wandeln, im vergangenen Jahr brachen die Exporte um fast 20 Prozent ein.

Von dem wirtschaftlichen Wohlstand Taiwans zeugt noch der Taipeh 101, bis vor einigen Jahren das höchste Gebäude der Welt. Im oberen Bereich ähnelt es einer verlängerten Pagode und mit seinen 101 Stockwerken ragt es weit über die Skyline der Stadt. Eine selbstbewusste Architektur, sichtbar aus jedem Winkel der Stadt. Von der Spitze des Turms überblickt man ganz Taipeh. 2016 trägt die Stadt den Titel „World Design Capital“. Was für das Land auch deswegen keine unbedeutende Auszeichnung ist, weil Taiwan, nun ja, von der Welt gemieden wird. Die demokratisch gewählten Führer des Landes sind in den meisten Ländern nicht willkommen – nur wenige Staaten weltweit erkennen Taiwan, das China noch immer als abtrünnige Provinz betrachtet, überhaupt an.

Die Reise wurde organisiert von Lea Deuber (freie Journalistin) und Andre Zantow (Deutschlandradio Kultur). Finanziell unterstützt wurde sie von Evonik, dem taiwanischen Außenministerium und der Robert Bosch Stiftung.