Neue Großmacht oder veralteter Petrostaat?

Recherchereise nach Russland im Mai 2010

Text: Evelyn Runge

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Die zwölf cremefarbenen Telefone habe er aus dem Kreml mitgebracht, sagt Dmitry Peskow, Pressesprecher von Wladimir Putin. Seinen Konferenztisch im Weißen Haus hat Peskow mit Buddha-Statuen dekoriert, das Fensterbrett mit einem Morgenstern. Eloquent und ruhig wie ein Buddha antwortet er auf jede Frage. Kritiker aber meinen, die Regierung agiere mit härterer Hand als noch vor wenigen Jahren. „Wir sind auf dem Weg in einen totalitären Staat“, sagt Michail Kassjanov, ehemaliger Premier und heutiger Leiter der Oppositionspartei „Volksdemokratische Union“.

Eine Woche lang hatten die zwölf Reiseteilnehmer Gelegenheit in Moskau und in Westsibirien zu recherchieren: Wirtschaftsmacht und innere Demokratisierung, Korruption und Justizreform, den Stellenwert von Pressefreiheit und politischer Opposition, Energie und Rohstoffe als Druckmittel in der Außenpolitik: Facettenreich und komplex wie die Themen selbst waren auch unsere Gesprächspartner.

Die Journalisten und Buchautoren Valerij Panjuschkin und Grigorij Pasko berichteten von ihren Recherchen über den Konzern Gazprom sowie den Bau der Ostsee-Pipeline. Elena Panfilova, Direktorin von Transparency International Russland, meinte, es werde noch einige Generationen dauern, bis Korruption in Russland bekämpft sein würde.

Maxsim Dwar, Sprecher des Ex-Jukos-Chefs Michail Chodorkowski, gab aktuelle Informationen zum derzeit laufenden Prozess gegen Chodorkowski. Oligarch Alexander Lebedev, Anteilseigner von Gazprom und der Zeitung Nowa Gazeta, empfing uns in Röhrenjeans und Pailettenschlips in seiner Stadtvilla. Über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und der Europäischen Union diskutierten wir mit Michael Webb und Ulrich Weins von der EU-Delegation in Moskau. Evgeny Gontmakher, Direktor für sozio-ökonomische Entwicklung des 2007 gegründeten Intituts für moderne Entwicklung INSOR, sprach über die Beratung von Präsident Dmitri Medwedew und die Modernisierung Russlands.

Das Programm war umfangreich, und auf dem Weg zu unseren Terminen wurde uns das img_1155Labyrinth der Moskauer Untergrundbahn innerhalb kürzester Zeit vertraut – auch Taxifahren auf Russisch, einer kapitalisierten Form des Trampens und die beste Möglichkeit, mit Bürgern ins Gespräch zu kommen. „Ich bin kein politischer Mensch“, sagte Ole, während er seinen Mercedes auf der Autobahn Richtung Innenstadt steuerte. Dann berichtete er von Wahlfälschungen, die er 2002 selbst beobachtet habe, von seiner Unzufriedenheit mit der Regierung und von seinem Wunsch, auszuwandern.

Durchleuchtet von Nacktscannern am Inlandsflughafen, brachen wir auf nach Sibirien. Surgut liegt drei Flugstunden von Moskau entfernt, hinter dem Ural, auf dem 60. Breitengrad. Die Nächte sind weiß wie in St. Petersburg, die Schuhabsätze der Frauen hoch wie in Moskau. Den Bekanntheitsgrad dieser beiden Städte teilt Surgut nicht, obwohl die Region die drittreichste Russlands ist – nach St. Petersburg und Moskau. Ihren Aufschwung erlebte Surgut Mitte der 1960er Jahre, als nach langer Suche Öl gefunden wurde.

Mitte der 1980er wurde das Wärmekraftwerk Sugurtskaja Gres-2 gebaut; seit 2007 investiert E.On Milliarden, das Unternehmen gilt als größter ausländischer Investor im russischen Energiemarkt. Derzeit entstehen zwei neue Blöcke, für Kraftwerks-Direktor Evgeny Zhilyaev ist es das wichtigste Projekt.

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Am nächsten Tag flogen wir mit dem Hubschrauber in die Taiga und besuchten eine Gaskompressorstation: In den Pipelines verliert das Gas Druck; um es weiterzutransportieren, muss es erneut komprimiert werden. Die Angestellten arbeiten 15 Tage fernab ihrer Familien; eine kleine Siedlung in der Taiga bietet eine Sporthalle, eine Kapelle, einen kleinen Supermarkt. Alternativen zur Öl- und Gasindustrie, Investitionen in alternative Energien oder Tundra-Tourismus lehnte Surguts Bürgermeister Alexander Sidorow ab: Darum könne man sich kümmern, wenn das Öl zur Neige ginge. Und das dauere ja noch ein paar Jahrzehnte.

Die Reise wurde organisiert und begleitet von Dirk Liesemer (freier Journalist) und Oliver Bilger (Süddeutsche Zeitung). Übersetzt wurden die Gespräche von der wunderbaren Katja Gubernatorowa. Wir bedanken uns auch bei unseren Sponsoren Metro Group, Lanxess und RWE.