The Estonian Dream

Recherchereise nach Estland im September/Oktober 2017

Text: Julius Heeke – Fotos: Adrian Hartschuh

„I will change the world“, sagt Reelika Alunurm, Studierendensprecherin der Universität Tartu, auf die Frage nach ihrer Zukunft, und wir zweifeln keine Sekunde daran. Das Leuchten in den Augen, dieser ansteckende Enthusiasmus begegnet uns nämlich nicht zum ersten Mal in Estland. Wir schreiben Tag sechs und erfahren einiges über das zumindest laut Pisa-Studie so erfolgreiche Bildungssystem in Estland. Zum Beispiel auch, dass die estnischen Schüler bei Pisa exzellent abgeschnitten haben – dass aber auch der Konkurrenzdruck zwischen den Schülerinnen und Schülern als ausgesprochen hoch gilt.

Die Esten sind so unkompliziert, Probleme sind Herausforderungen und kein Grund von einer Idee zurückzuschrecken, schwärmt Christoph Eichhorn. Seine Begeisterung für Estland teilt der deutsche Botschafter gleich zu Beginn unserer Reise in einem ausführlichen Hintergrundgespräch. Estland, ein junges Land, junge Regierung, voll junger Ideen, aber auch alter Probleme. Estland und die Superlative: das digital Wonderland, die Ideenschmiede, das Start-Up-Paradies, die Pisatestsieger, aber auch Estland als ehemaliger Teil der Sowjetunion, als Übergang oder Bollwerk zu Russland. Um dem auf den Grund zu gehen, besuchen wir in den kommenden sieben Tagen drei Städte: Die Hauptstadt Tallinn, Narva an der Grenze zu Russland und die Universitätsstadt Tartu.

Kein Land so digital wie Estland

Nach dem Besuch beim Botschafter treffen wir uns in der Telliskivi Creative City mit Journalisten und Vertretern der estnischen Zivilgesellschaft. Mit dabei ist dessen Gründer Jaanus Juss, der vor zehn Jahren aus einem brachliegenden Industriegebiet im Westen Tallinns das Kultur- und Kreativzentrum aufgebaut hat, ohne staatliche Förderung und Einmischung, wie er betont. Mit dem Konzept ist er mittlerweile auch in London gefragt. Marten Kaevats, digitaler Berater der estnischen Regierung, der vor wenigen Tagen noch mit Bundespräsident Steinmeier geplauscht hat und von dem Vorhaben berichtet, den Nahverkehr vollständig zu automatisieren zu wollen, sitzt ebenfalls am Tisch. Beide sind Anfang 30 und quillen über vor Energie.

Von nordischer Zurückhaltung ist an diesem Abend also wenig zu spüren. Aber warum auch? Nur wenige Tage vor unserer Ankunft tummelten sich hier noch die Europäischen Regierungschefs. Estland hat den EU-Ratsvorsitz inne und hat nicht nur Angela Merkel bei Ihrem Besuch beeindruckt. Denn Estland ist so digital wie kein anderes Land in Europa, eine Stunde Zeitverschiebung besteht zu Deutschland, was die Digitalisierung des Landes angeht, trennen uns offenbar Jahrzehnte.

Einen Einblick, wie sich die Regierungschefs gefühlt haben bekommen wir am dritten Tag im Kultuurikatel, in dem zuvor die EU-Konferenz stattgefunden hat. Das Kreativzentrum befindet sich in einem ehemaligen Kraftwerk, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, ist eindrucksvoll beleuchtet und natürlich voll digital. Das WLAN heißt übrigens „FreeTheData“, Passwort „5thfreedom“.

„Crypto is everything“

Der landesweite Breitbandausbau ist Grundvoraussetzung für die Digitalisierung des Alltags. Funklöcher, wie sie in Deutschland vor allem im ländlichen Gegenden üblich sind, gibt es in Estland nicht. Estnische Schulen sind seit Ende 1996 am Netz, die Verwaltung ist mittlerweile nahezu vollständig digital: Jeder Este hat eine digitale ID, die er für alles nutzen kann: Steuererklärung, Einwohnermeldeamt, Kfz-Stelle, Gewerbeanmeldungen – alles online, selbst wählen gehen läuft digital und wird insbesondere von jungen Wählern genutzt. Das einzige für das man noch persönlich im Amt erscheinen muss, sind Hochzeiten und Immobilienkäufe.

Wir fühlen uns alt und ertappen uns ins mehreren Gesprächen dabei, vor allem „ja aber“-Fragen zu stellen. So konfrontieren wir in der e-Governance Academy Paul Rikk, den Leiter der Cyber-Security, mit unseren Sicherheitsbedenken was das „X-Road“-System angeht. „Das ist immer das erste, was alle wissen wollen.“ Aber sie seien ja nicht blind und ganz nebenbei seien die estnischen Systeme deutlich sicherer als die deutschen. Hacker-Angriffe gebe es eigentlich immer wieder, einen kompletten Ausfall habe es bisher aber nur einmal gegeben. Die Daten seien sicher. „Crypto is everything“, darauf schwört Rikk. Doch ganz ausgeräumt wird unsere Skepsis nicht – es bleiben Zweifel, ob die digitale Euphorie vollkommen unproblematisch ist.

Ausflug an die russische Grenze

Rund ein Viertel der estnischen Bevölkerung sind ethnische Russen. Spätestens seit der Annexion der Krim wuchsen auch die Sorgen vor dem großen Nachbarn. Der Ukraine-Konflikt war dann auch ausschlaggebend für die Gründung von ETV+, dem einzigen, russischsprachigen Sender Europas. Der Kanal gehört zum estnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ERR und sendet täglich 24 Stunden auf Russisch. Er kämpft quasi gegen eine Übermacht, Russischen Kanäle können auf einen riesigen Etat zurückgreifen, ETV+ muss mit deutlich weniger auskommen.

Von den ersten Eindrücken aus Tallinn überwältigt, fahren wir mit dem Bus an die russische Grenze. Nach Narva, dass durch den gleichnamigen Fluss die EU von Russland trennt. Gegensätzlicher können Städte auf dem ersten Blick nicht sein. Tallinn mit seiner idyllischen Altstadt und – Narva?

Passend zum grauen Wetter prägen graue Hochhausreihen die Stadt. Im zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, wurde Narva ganz sowjetisch wiederaufgebaut. Der erste Gedanke, nichts wie weg hier. Damit teilen wir ein Gefühl, das anscheinend viele Jugendliche in der Arbeiterstadt Narva haben. Perspektiven sind rar in Narva. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt deutlich unter dem im Rest des Landes.

Vision für Narva: EU-Kulturhauptstadt 2024

Der erste Besuch führt uns am nächsten Morgen zum Hauptarbeitgeber der Region: die Schieferöl-Raffinerie des staatlichen Energieunternehmens Eesti Energia. Etwa 90 Prozent des Stromverbrauchs wird aus Schieferöl gewonnen. Der Geruch von Geld. Geld stinkt könnte man erwidern, denn das Verbrennen von Schieferöl ist dreckiger als Kohle. Zwar ist die Methode verfeinert bis ins Detail, aber von grüner Energie ist Estland allerdings weit entfernt. Ein Grund, warum das Land dennoch am Schieferöl festhält: Unabhängigkeit von Russland.

97 Prozent der rund 60.000 Einwohner gehören zur russischen Minderheit. Nach der Annexion der Krim stand für viele die Sorge im Raum, dass Narva als nächstes dran sein könnte. Is Narva next? Das ist allerdings auch eine Frage, die die Bewohner von Narva nicht mehr hören können. Ivan Sergejev hat den Spieß daher umgedreht und den Hashtag #NarvaisNext ins Leben gerufen. Narva soll internationaler Hotspot werden. Wie er das anstellen will? Durch Kultur.

Sergejev kommt aus Narva, als Jugendlicher war er so schnell weg wie es ging. Architekturstudium und Arbeiten in Europa, in den USA. Jetzt aber ist er wieder zurück in Narva: als Stadtplaner. Seine Vision für die Stadt: EU-Kulturhauptstadt 2024. Direkt an der EU-Außengrenze. Die drittgrößte Stadt Estland soll nicht weiter das Problemkind des Landes sein.

Die Kreenholm Manufaktur war einst das Aushängeschild der Stadt, Arbeitsplatz für rund 12.000 Menschen. Eine gigantische Textilfabrik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, eine eigene Stadt in der Stadt. Seit 2004 stehen die Maschinen still und die Gebäude verfallen, stecken aber dennoch voll Potential. Backsteinbauten mit riesigen Hallen, wie gemacht für Konzerte, Ausstellungen, Festivals, und das könnte im kommenden Jahr soweit sein, mit einem Ableger der Tallinn Music Week. Helen Sildna, die Organisatorin eben dieses Festivals treffen wir zum Abschluss unserer Reise in Tallinn. Abermals im In-Viertel Telliskivi. Sie glaubt an das Potential Narvas und will das, was bereits in Tallinn alljährlich passiert, auch in den Osten des Landes tragen, nämlich Konzerte an ungewöhnlich Orten. Wird Narva das nächste große Ding? Man wird sehen…

Die Reise wurde organisiert und begleitet von Benedikt Schulz (Deutschlandfunk), Marieke Einbrodt (Stiftung Warentest) und Michael Olmer (Bayerischer Rundfunk). Finanziell unterstützt wurde sie von Air Baltic, dem Dienstleistungsunternehmen Arvato, dem Estonian Tourist Board, der estnischen EU-Ratspräsidentschaft, Tallink Hotels und dem Välisministeerium, dem estnischen Außenministerium.