„Keine Geschichte ist es wert, dafür in Stücke geschnitten zu werden.“

Erfahrungsaustausch mit Michael Obert im Dezember 2011

Foto: Klaus Heymach

Foto: Klaus Heymach

Der Reporter Michael Obert („Weltränder“, „Gesichter des Islam“) hat den Niger von der Quelle bis zur Mündung befahren, er hat Island bereist, Botswana, Neuguina und Afghanistan. Im Frühjahr hat der 45-Jährige die Revolution in Ägypten miterlebt, anschließend ist er nach Somalia weitergereist. Zuletzt recherchierte der Buchautor und Journalist in Zentralafrika.

Beim Gespräch im Dezember 2011 in der Berliner Orient Lounge erzählte Obert davon, wie er solche Reisen plant und wie er vor Ort recherchiert, von Reißbrett-Aufträge aus den Redaktionen, den Kosten für einen Fixer in Somalia und seinem geplanten Kino-Dokumentarfilm über einen weißen Pygmäen.


Michael Obert im Gespräch

Im Januar hattest du im ZEIT-Magazin eine Geschichte über einen Amerikaner, der seit 25 Jahren im afrikanischen Dschungel mit Pygmäen zusammenlebt. Wie hast du diesen Menschen gefunden?

Ich habe vor zwei Jahren eine Geschichte für ein anderes Magazin über ein Regenwaldschutzgebiet in der Zentralafrikanischen Republik gemacht. Abends saßen wir mit den Leuten vom WWF zusammen und die haben erzählt: Wir haben da so eine Gorilla-Forscherin, eine Waldelefanten-Forscherin, eine Forscherin über Ebola und, ach ja, dann ist da noch dieser Amerikaner, der lebt seit 25 Jahren mit Pygmäen. Aber der redet bestimmt nicht mit dir. Der hat alles hinter sich abgebrochen. Mit dem Fotografen Matthias Ziegler bin ich dann tief in den Regenwald. Irgendwo auf einer Lichtung kamen plötzlich Pygmäen von allen Seiten, mit spitzgefeilten Zähnen und Speeren. Und dann tauchte dieser weiße Mann aus dem Unterholz auf, mit zwei Pygmäenbabys im Arm, barfuß, abgeschnittene Shorts. Es war der Beginn einer für mich auch persönlich sehr berührenden Geschichte. Wir sind mit ihm und den Pygmäen ein paar Tage auf Netzjagd gewesen. Wir waren nicht vorbereitet, hatten nichts dabei. Schliefen wie die Pygmäen auf dem Waldboden eingerollt. Aber als wir zurück nach Deutschland kamen, konnte ich mit diesem Teil meines Materials nichts anfangen. Wir hatten nur diese traumhaften Fotos.

Wie ging es weiter?

Louis Sarno, so heißt der weiße Pygmäe, geht einmal in der Woche zur WWF-Station und checkt seine E-Mails. So hielten wir Kontakt. Sechs, sieben Monate gingen ins Land. Ich war wieder woanders, als ich eine E-Mail aus dem Kongobecken bekam: Hey, how is it going, I’m travelling to New York City, you wanna hook up? Da habe ich den Fotografen und das ZEIT-Magazin angerufen. Wir flogen nach New York, haben Louis getroffen und sind mit ihm zu seiner Mutter, seinen Brüdern und zu seinem alten Schulfreund Jim Jarmusch. Louis hat in diesen Tagen oft von seinem Sohn erzählt, was ich später in der Geschichte ein bisschen unterschlagen habe. Er hat mit einer Pygmäen-Frau einen 13-jährigen Sohn: Samedi. Weil er an einem Samstag geboren wurde. In New York wünschte sich Louis die ganze Zeit, seinem Sohn einmal diese Welt zu zeigen. Und jetzt, wieder ein Jahr später, mache ich die Regie für einen Kino-Dokumentarfilm, der Louis und Samedi bei dieser Reise begleitet. Am 24. Oktober ist Drehbeginn. Eine neue Zeit, die da für mich beginnt.

Wie finanzierst du das Projekt?

Es ist wieder so ein finanzielles Kamikaze-Projekt. Die vier, die mitmachen – Kamera, Ton, Regie und Producer – wir haben 80 Prozent unserer Honorare zurückgestellt. Soll heißen: Wir werden sie nie kriegen. Wir haben 220.000 Euro, um den Film zu drehen. Das Geld kommt von Privatiers, die meine Bücher gelesen haben.

Du bist freier Journalist, und wenn man deinem Facebook-Profil folgt, dann warst du allein in diesem Jahr im Kongo, in Ägypten, Somalia, Kamerun und der Zentralafrikanischen Republik. Wie hast du das geschafft?

Ich habe Betriebswirtschaft studiert. Im Ernst. Ich habe Betriebswirtschaft studiert, ohne zu wissen, warum und was Betriebswirtschaft ist. Nach dem Studium ging es ins mittlere Management in der so genannten freien Wirtschaft. Nebenher war ich Sänger in einer Punkband. Ich habe mich einfach nicht gesehen in dieser Business-Kleidung, mit dieser Frisur und in dem ganzen Kontext. Nach ein paar Jahren habe ich einen gut bezahlten Job in Paris angenommen. Ich komme aus dem Arbeitermilieu, meine Familie freute sich: Unser Sohn hat es geschafft. Aber ich wurde immer unglücklicher und eines Tages rief ich zu Hause an und sagte: Ich kündige und ziehe für eine Weile mit dem Rucksack durch Südamerika. Mein Vater hat aufgelegt. Drei Tage später rief er zurück: Deine Mutter und ich haben drüber nachgedacht – wir finden, du solltest es machen. Auf meiner Tour durch Südamerika habe ich angefangen, alles mögliche niederzuschreiben und die Notizen nach Hause geschickt. Als ich nach 23 Monaten zurückkam, völlig pleite, lag da ein kniehoher Stapel mit Heften. Ich habe versucht, Reportagen zu extrahieren und sie an Zeitungen geschickt. Von den allermeisten Blättern habe ich nie mehr was gehört. Andere schrieben Dinge zurück wie: “Schulaufsätze drucken wir nicht.” Ich habe mir Bücher über das Schreiben von Reportagen gekauft. Und einen Verteiler mit 40 Regionalzeitungen zusammengestellt. Die wurden dann im dpa-Stil zugeballert. So ging das los. Das war 1996. Die ersten zwei Jahre habe ich ziemlich gekämpft. Aber ich wollte nicht mehr in die Bürowelt zurück. Ich wollte in der Welt unterwegs sein – und darüber schreiben.

Was war der Durchbruch?

Irgendwann hatte ich bei der ZEIT ein paar größere Sachen untergebracht. Die hatten eine gewisse Freude an meinen holprigen, nicht-schulgemäßen Texten. Damit konnte ich zu anderen Medien gehen. In den ersten zehn Jahren habe ich meine gesamten Honorare gleich wieder in neue Reisen gesteckt. Erst langsam habe ich gelernt, mich besser vorzubereiten und genauer überlegt, welche zwei, drei Themen unterwegs wohl funktionieren könnten.

Eines deiner Bücher heißt: “Die Ränder der Welt”. Ist das eine Art Maxime bei der Themensuche?

Ja, es geht immer entlang von irgendwelchen Rändern, ganz am Anfang etwa im Iran. 20 Jahre nach der Islamischen Revolution bin ich hin und habe über ganz normale Menschen geschrieben. Oft funktionierten Geschichten auch über tolle Bildstrecken. So kam ich nach und nach zu den Magazinen, von denen ich die ersten Auftragsarbeiten erhielt. Ich war so viel unterwegs, dass ich morgens oft aufgewacht bin und minutenlang nicht wusste, in welchem Land ich war. Mein Anspruch an Tiefe und Emotionalität stand auf dem Spiel. Deshalb habe ich die Strategie gewechselt.

Das heißt?

Fotos: Klaus Heymach

Foto: Klaus Heymach

Seit fünf, sechs Jahren mache ich fast nur noch Themen, die ich selbst entwickle. Die Redakteure, die in Hamburg, Berlin oder München sitzen, sind oft zu weit weg von den Geschehnissen vor Ort. Da landest du schnell mal mit einer Headline im Krisengebiet, die überhaupt nicht funktioniert. Dann stehst du in Afghanistan oder im Südsudan und denkst: Das passt einfach nicht. Das hat wenig mit Journalismus und Wahrhaftigkeit zu tun. Du musst dich permanent verbiegen zwischen den Erwartungshaltungen aus der Heimat und den Verhältnissen vor Ort. Deshalb mache ich fast nur noch Themen, die ich selbst konzipiere. Ich recherchiere vor, oft auch sehr aufwändig, rufe in dem Land, um das es geht, ein paar Bekannte an. Als nächstes vertiefe ich das Thema in einem Exposé von ein, zwei Seiten und kalkuliere auch schon detailliert die Kosten. Dann überlege ich, welche Redaktionen das interessieren könnte. Erst dann rufe ich an. Ist der Auftrag dann erteilt, passe ich gemeinsam mit der Redaktion das Thema noch mal an. Aber es ist jetzt relativ klar, was ich liefern kann – und was nicht.

Findest du die Themen am Schreibtisch oder vor Ort?

Oft bin ich Jahre an meinen Themen dran. Etwa am Coltan-Thema, das ich kürzlich für das ZEIT-Magazin gemacht habe. Der Stoff wird im Kongo abgebaut und in unseren Handys und Computern verbaut. Das Coltan finanziert dort einen der grausamsten Kriege, den wir auf unserem Planeten haben, mit fünf Millionen Toten. Trotzdem kriegte ich das Thema lange nicht unter. Immer wieder musste ich mir anhören: Wo ist der Bezug zu Deutschland, wo ist der Bezug? Ich sagte: Fünf Millionen Tote! Unsere Handys! Reichte aber nicht. Erst eine kleine Nachricht brachte den Durchbruch. Sie hieß: Deutsche Geologen kümmern sich um das Coltan im Kongo. Da war der Bezug plötzlich da, und die Geschichte lief.

Was sind Themen, die du verfolgst? Oder sind es bestimmte Länder?

Ich bin sehr viel in Afrika, im Mittleren und Nahen Osten und in Zentralasien. Kein Fernost, kaum mehr Lateinamerika. In Afrika fühle mich sicher, ich kann die Menschen gut einschätzen. Ich könnte niemals was Vergleichbares in Tschetschenien machen – obwohl Somalia viel gefährlicher ist, aber Somalia liegt innerhalb meiner Grenzen. Bei einem Afrikaner weiß ich sofort, ob ich mich ihm anvertrauen kann. Es gibt einige thematische Klammern, die mich interessieren. Im Bereich langer Porträts sind das extreme, oft zwischen verschiedenen Kulturen angesiedelte Lebensentwürfe. Wie der von Louis Sarno, dem weißen Pygmäen. Eine Geschichte muss mich erst selbst berühren, damit ich über meinen Text dann auch Leserinnen und Leser mitnehmen kann.

Wie passt die Coltan-Geschichte dazu?

Sie gehört zu einer meiner anderen thematischen Klammern: reiches Afrika. Ich habe über Diamanten in Sierra Leone geschrieben, Öl im Nigerdelta, Kakao in der Elfenbeinküste, Coltan im Kongo. Ist es nicht verrückt, dass diese Rohstoffe aus Afrika kommen und sich irgendwo in die Weltwirtschaft verflüchtigen, um dort Milliarden zu generieren, während Afrika der ärmste Kontinent ist und bleibt? In unserer aktuellen Mediengesellschaft fehlen für solche Themen leider oft Zeit, Geld und Risikobereitschaft. Im Zweifel sitzt in Tel Aviv ein Korrespondent, der für den gesamten Nahen und Mittleren Osten und nebenbei auch noch für Zentralasien zuständig ist. Nur wenn es knallt, darf er irgendwo hinfahren. Und so sehen dann viele Geschichten aus. Aber ich will eben auch wissen: Welche Witze macht man derzeit in Kabul? Und was sagt der Vogelhändler dort? So kommen unerwartete Geschichten zum Vorschein, die wir viel zu selten lesen.

Wie bereitest du deine Reisen vor?

Wenn es losgeht, etwa in den Kongo zu den deutschen Geologen, habe ich inhaltlich und kontaktmäßig schon ziemlich viel zusammen. Aus dem Netz. Aus meinem Archiv. Von Kollegen in den USA und in Frankreich, die an den selben Themen arbeiten. Vor Ort arbeite ich mit einem Fixer. Ohne Fixer keine Geschichte. Der Fixer ist mein Übersetzer, er bringt mich aber auch rein und vor allem wieder raus. Solche Spezialisten gibt es in manchen Ländern oft nur eine Hand voll. Wenn ich selbst keinen vertrauenswürdigen Fixer kenne, schaue ich ins Netz: Hat die NZZ was zu dem Thema gemacht, Le Monde, die New York Times – und dann nehme ich Kontakt zu den Kollegen auf. Die helfen bereitwillig, weil wir alle schon mal froh waren, wenn wir einen Strohhalm zu fassen gekriegt haben.

Wie teuer ist so ein Fixer?

In Kairo nach der Revolution: 200 US-Dollar am Tag. In Mogadischu 1000 Euro am Tag. Alles inklusive: Übersetzen, Kontakte, Sicherheit, Unterbringung. Es gibt nur zwei Leute in Mogadischu, die Journalisten in die Stadt bringen. Die haben das Monopol. Zehn Tage machen da 10.000 Euro – ohne Flug, Honorare, Extras. Eine solche Geschichte kostet 25.000 Euro. Das kann sich ein Magazin höchstens zwei Mal im Jahr leisten – oder es teilt sich die Kosten mit anderen. Meine Revolutions-Reportage über Kairo etwa ist im SZ-Magazin und im Tagesanzeiger am gleichen Tag erschienen. Gut für die Redaktionen, gut für mich.

Woher weißt du vorher, wie lange du vor Ort brauchst, um eine Geschichte zu recherchieren?

Ich mache das nach einer Art Drehplan. Den und den muss ich treffen, dafür brauche ich jeweils so und so viel Zeit. Und wenn ich weiß, ich brauche zehn Tage, würde ich in manche Gegenden Afrikas nicht unter 15 fahren. Das Auto kann kaputt gehen, der Fixer kann abhauen, irgendjemand sperrt dich für ein, zwei Tage ein. Und schon ist die Hälfte der Zeit futsch.

Gibt es Geschichten, die du nicht machen würdest?

In Kriegsgebiete gehe ich nur mit Fotografen, die ich kenne, bei denen ich weiß, dass ich mich auf sie verlassen kann. Davon gibt es drei oder vier. Die Redaktionen verstehen das. In Afrika würde ich jedes Thema machen. Fast jedes. Vor ein paar Jahren war ich an der Lord Resistance Armee dran, eine brutale Killertruppe, die im Südsudan, im Kongo und in Uganda operiert. Den Boss hatte jahrelang niemand zu Gesicht bekommen. Immer wieder habe ich versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, bis mich Mittelsmänner in Kampala zu ihm führen wollten. Dubiose Leute, sie sagten, drüben im Kongo müssten sie mir die Augen verbinden. Sie wollten mich Tage lang blind durch den Regenwald führen. Es wurde immer abstruser. Absurde Beträge wurden aufgerufen. Am Morgen bevor es losgehen sollte, habe ich mich ausgeklinkt. Keine Geschichte ist es wert, dafür in Stücke geschnitten zu werden.

Aufgezeichnet von Dirk Liesemer.