Heute Hongkong, morgen Taiwan?

Recherchereise in die Republik China im November 2019

Text & Fotos: Elisa Rheinheimer-Chabbi

Am 11. Januar 2020 sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Republik China, wie Taiwan offiziell heißt. Die Insel liegt knapp 200 Kilometer östlich vom Festland und ist historisch, kulturell und vor allem wirtschaftlich eng verbunden mit der benachbarten Volksrepublik China.

Wie genau die Beziehungen aussehen sollen, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße und auch auf der Insel selbst. Das wurde schnell klar während der Recherche von zwölf Journalisten vom 21. bis zum 30. November in Taipeh und Kaohsiung.

Da war das Treffen mit Wei Yang: 2014 besetzte er mit anderen Studenten wochenlang das Parlament und brachte mit der Sonnenblumenbewegung Hunderttausende auf die Straße. Die Angst war groß vor wachsender wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit Taiwans von China. Heute kommen diese Gefühle wieder hoch, wenn Wei Yang und seine Freunde sich im Livestream die Bilder aus Hongkong ansehen. „Die Leute sind so alt wie ich und schon im Krieg“, sagt die 22-jährige Jessica Wu mit Blick auf die pro-demokratischen Aktivisten in Hongkong. Die Studentin unterstützt die dortige Protestbewegung. Heute Hongkong, morgen Taiwan? Diese Frage stellen sich im Herbst 2019 viele Taiwaner.

Mit ihr verknüpft ist eine zweite Frage: Bist du grün oder blau? Auf einer Wahlkampfveranstaltung der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) von Regierungschefin Tsai Ing-wen schwenken die Menschen begeistert grüne Fähnchen. Die Blauen dagegen sind Anhänger der Kuomintang (KMT), die über Jahrzehnte die Insel regierten, auf eine enge Kooperation mit dem Festland setzte und deshalb nun in der Opposition ist. „Sollte die KMT wieder gewinnen, könnten das die letzten freien Wahlen gewesen sein“, befürchtet ein DPP-Anhänger im lauten, grünen Fahnenmeer.

Blödsinn, winkt eine KMT-Politikerin später ab, das sei bloß Angstmache. Diese Polarisierung zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Nach vielen Gesprächen gewinnen wir den Eindruck: Es sind existenzielle Ängste, die die Taiwaner umtreiben und beide großen Parteien versuchen, sie für sich zu nutzen. Die DPP behauptet, die Kuomintang würde Taiwan an China verraten: Käme sie wieder an die Macht, gäbe es bald keine eigenständige taiwanische Identität mehr und die noch junge Demokratie Taiwans wäre dem Tod geweiht.

Die KMT hingegen findet, die Unabhängigkeits-Rhetorik der DPP provoziere die Kommunistische Partei auf dem Festland. Das solle sie tunlichst unterlassen, sonst könne es zum Krieg kommen und das würde das Ende Taiwans bedeuten. Immerhin sind mehr als tausend Raketen von Chinas Küste auf Taiwan gerichtet.

Aber nicht nur militärisch fühlen sich viele Taiwaner bedroht. Im Taiwan Fact Check Center erfahren wir, wie Festlandchina versucht, mittels Fake News und Desinformation im Netz Einfluss zu nehmen – besonders in Zeiten des Wahlkampfs. „Wir befinden uns mitten in einem Cyberwar“ – diese Analyse teilen die Journalistinnen aus dem Fact Check Center mit den Experten des hochgesicherten Institute for National Defense and Security Research. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China und der Kampf um die Deutungshoheit im Netz sind, so meinen viele, gefährlicher für Taiwan als eine mögliche militärische Invasion.

Dass all diese Fragen weit mehr sind als eine Randnotiz der Geschichte, die uns in Europa nichts angeht, macht Wu’er Kaixi deutlich, den wir in seiner Lieblingsbar in Taipei treffen. Kaixi war Studentenführer der Demokratie-Proteste von 1989 auf dem Tiananmenplatz. Er gilt als einer der meist gesuchten Personen der KP Chinas. Seit vielen Jahren lebt Kaixi nun schon in Taiwan und beobachtet von dort fassungslos den Aufstieg Chinas zur Weltmacht und die Zusammenarbeit westlicher Staaten mit dem Regime in Peking.

China, das ist für ihn der große Feind, und Europa, meint er, habe noch immer naiv-romantisierte Vorstellungen von China und würde die Gefahren der chinesischen Einflussnahme im wirtschaftlichen und im kulturellen Bereich völlig unterschätzen. Heute Hongkong, morgen Taiwan, übermorgen Berlin? Glaubt man Kaixi, könnte die KP schon bald mitreden wollen, was in deutschen Schulbüchern über China steht.

Doch es geht bei der jn-Reise nach Taiwan nicht nur um die große Weltpolitik. Bei einem Besuch von „Hotline“, der größten LGBT-Organisation der Insel, erfahren wir, wie Taiwan als erstes asiatisches Land gegen viele Widerstände die gleichgeschlechtliche Ehe gesetzlich verankert hat. Bei der Taiwan Youth Association for Democracy erzählen uns Studenten, wie sie das Bildungssystem verändern wollen. Im Industrial Technology Research Institute erklärt man uns, mit welchen Technologien Taiwan zum Silicon Valley Asiens werden will. Und im 228-Memorial-Park lernen wir, wie sehr das Massaker vom 28. Februar 1947, bei dem zehntausende Zivilisten starben, die Taiwaner noch heute beschäftigt.

Dazu gab es viele weitere Begegnungen, die uns im Gedächtnis bleiben werden: Etwa mit Digital-Ministerin Audrey Tang, mit Metal-Politiker Freddy Lim oder mit Hongkongs entführtem Ex-Buchhändler Lam Wing-kee. Und, nicht zu vergessen: dem China-Kohl aus Jade im Nationalen Palastmuseum.

Die Reise wurde organisiert von Andre Zantow (freier Journalist) und Felix Lee (taz – die tageszeitung). Finanziell unterstützt wurde sie von Heidenhain Co., LTD. (Taiwan), EnBW Asia Pacific Ltd., dem taiwanischen Außenministerium und der Adolf Würth GmbH & Co. KG Taiwan Branch.