Arabische Frühlingsgefühle zehn Monate nach der Revolution
Recherchereise im November 2011 nach Tunesien
Text: Monika Bolliger – Fotos: Dirk Liesemer
Auf der Avenue Bourguiba in Tunis, von der Anfang des Jahres Bilder protestierender Tunesier um die Welt gingen, ist Ruhe eingekehrt. Der Alltag nimmt seinen Lauf, nur der Stacheldraht vor öffentlichen Gebäuden erinnert an die Ereignisse vom Januar, als die Tunesier ihren langjährigen Diktator Zine al-Abidine Ben Ali in die Flucht trieben. Der Reiseleiter und Deutschlehrer Mouldi Hammami lässt die Ereignisse der Revolution Revue passieren, als er uns von der Avenue Bourguiba zur Place de la Kasbah führt. Hier blättern inzwischen die Wahlplakate von den Mauern ab. Die unter Ben Ali verbotene islamistische Partei an-Nahda hat bei den ersten freien Wahlen seit der Unabhängigkeit 41 Prozent der Sitze erhalten und damit bei den Wahlen in die verfassunggebende Versammlung weitaus am besten abgeschnitten. Und nun fragen sich viele, ob eine islamistische Partei, die eine Demokratie auf der Basis eines republikanischen Rechtsstaates aufzubauen gedenkt, nicht ein Widerspruch in sich selbst ist.
Wir haben die Gelegenheit, den Anführer der Nahda, Rachid al-Ghannouchi, dazu selber zu befragen. Der ältere Herr ist nach der Revolution aus dem Londoner Exil zurückgekehrt – nach 22 Jahren. Nach seinen Äußerungen sieht er im Islam heute eher einen moralischen Handlungsrahmen als ein strenges Regelwerk für die Errichtung eines Gottesstaates und vergleicht seine Partei mit christlichen Parteien in Europa. Seine Antworten sind eher die eines Intellektuellen als die eines Politikers. Ab und zu wird er dennoch konkret. Es werde keinen Kopftuchzwang geben, meint er – jedoch auch kein Kopftuchverbot, was vorher teilweise der Fall war.
Viele Gesprächspartner erklären uns, dass die Nahda einerseits gut abgeschnitten hat, weil sie auf eine in langen Jahren gewachsene Organisation bauen konnte. Andererseits steht die Nahda vor allem auch für einen Bruch mit dem alten System; ihre führenden Mitglieder waren allesamt im Exil oder im Gefängnis unter Ben Ali. Zugleich, so erläutert Elisabeth Braune von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis, finde ein Kulturkampf statt, eine offene Auseinandersetzung um den Platz der Religion in der Gesellschaft. Die Frage der Identität müsse geklärt werden, meint sie. Dann habe Tunesien das Potenzial, einen eigenständigen, tunesischen Weg zu finden.
Unter Künstlern und jungen Aktivisten ist die Enttäuschung über den Wahlsieg der Nahda besonders verbreitet. Der Rapper Malek Khemiri von der Hip Hop-Gruppe Armada Bizerta klagt, dass die Islamisten mehr Ressourcen hätten und besser organisiert seien, als die Jugend, welche die Revolution vor allem getragen habe. „Aber wir kämpfen weiter“, sagt er entschlossen. Mit seinem Kollegen Mountasser Echi rappt er uns im Kulturzentrum Mad’Art Carthage Kostproben aus dem Repertoire von Armada Bizerta vor – mit Texten über die Revolution, über Vorurteile im Westen, und über die Wahlen.
Der berühmte Blogger Slim Amamou befürchtet, dass mit dem Gewinn religiöser Freiheiten andere persönliche Freiheiten verloren gehen könnten. Zugleich aber gebe es im Gegensatz zu früher Hoffnung, und die anderen Parteien müssten von der Nahda lernen, sich zu organisieren. Auch die Aktivistin Nidhal Chemengui befürchtet zunächst einige Rückschritte. Aber schlussendlich, so sind sich die meisten Skeptiker einig, habe die Nahda keine Mehrheit und sei auf Koalitionen und damit auch Kompromisse mit Säkularisten angewiesen.
„Es sind nicht die Ideen, welche die Zukunft gestalten werden, sondern die Gesellschaft“, mahnt Jamil Hayder von der Hanns-Seidel-Stiftung, nachdem er lange über verschiedene Formen und Strömungen des politischen Islam philosophiert hat. Und er fügt hinzu, dass es auch undemokratische Säkularisten gebe – jene nämlich, die am liebsten alles Islamische verbieten würden. Das hätten die Diktatoren lange genug versucht, es führe aber zu nichts. Auf die Frage, wie er die künftige Entwicklung der Nahda und der Politik überhaupt einschätze, lacht er schulterzuckend: „Das kann niemand wissen. Nur Scharlatane können so was voraussagen!“
Dass die Linien nicht immer so klar verlaufen, zeigt sich beim Mittagessen mit einer Gruppe tunesischer Journalisten. Die einzige in der Runde, die ein Kopftuch trägt, ist die junge Journalistin Yosra Ouanes. Und sie erklärt, sie habe den linksnationalistischen CPR gewählt, und nicht die Nahda. Dann platzt ihre Nachbarin Hajer Mtiri in das allgemeine Erstaunen mit ihrer Verkündung, sie hingegen habe die Nahda gewählt. Die 21-jährige Journalismusstudentin versteht die Aufregung um die Islamisten nicht, und das Rätseln, ob sie mit ihren Demokratiebekenntnissen die ganze Welt an der Nase herumführen. Wenn die Nahda nicht so politisiere, wie sie es versprochen habe, könne man sie ja einfach abwählen. „Wenn sie uns nicht passen, können wir jederzeit wieder das Zauberwort ‚dégage’ aussprechen.“
Mtiri beschäftigt vielmehr die Frage, wie Strukturen und Mentalitäten, welche die Diktatur im Land etabliert hat, zu überwinden sind. Nicht überwundene Zensurmentalitäten, der Einfluss alter Eliten, welche die großen Medienhäuser besitzen, und das Erlernen eines professionellen Journalismus sind Themen, mit denen sich engagierte Journalisten befassen. Auch Omar Mestiri und Siham Bensedrine vom unabhängigen Radio Kalima zeichnen im Gespräch ein ähnliches Bild. Für ihren Sender haben sie noch immer keine Lizenz erhalten, trotz der Revolution und der inzwischen sehr weit reichenden Pressefreiheit.
Eine der drängendsten Fragen für Tunesien ist aber auch, wie sich die Wirtschaft entwickeln wird. Es war wirtschaftliche Not – verbunden mit dem Gefühl der Erniedrigung und dem Verbot, sich zu äußern – die zur Revolution führte. Einer der wichtigsten Wirtschaftszweige, der unter der Revolution besonders litt, ist der Tourismus. Rund 400.000 Tunesier arbeiten in diesem Bereich. Offenbar erholen sich die zurückgegangenen Besucherzahlen aber bereits.
Das erklären uns Vertreter der Tourismusbranche im Gespräch in Hammamet, wo wir während zwei Tagen die Vorzüge von All-Inclusive-Strandferien bei TUI kennen lernen dürfen – eine wahre Erholung nach den arbeitsintensiven Tagen in Tunis. Die Nahda macht den Hoteliers wenig Sorgen. Ernsthaft gegen den Badetourismus vorgehen zu wollen, sei politischer Selbstmord angesichts der vielen Arbeitsplätze, die davon betroffen wären, lautet die Einschätzung des Managers von TUI, Todor Petrov. Überdies sei seit der Revolution keinem einzigen Touristen etwas zugestoßen. Es gebe daher keinen Grund, das Land nicht mehr zu besuchen. Auch ein paar Stammgäste, mit denen wir ins Gespräch kommen, sehen das so. Sie seien auch während der Revolution hier gewesen und hätten sich absolut sicher gefühlt, erklärt einer von ihnen.
Einen Überblick über wirtschaftliche Entwicklungen und Einschätzungen erhalten wir bei Vertretern der deutschen Außenhandelskammer (AHK) und des Netzwerks Germany Trade & Invest (GTAI). Die meisten Betriebe haben spätestens 2-3 Tage nach dem Umsturz wieder gearbeitet. Zunächst ist allerdings die Wirtschaft wegen des Umsturzes eingebrochen; für 2011 wird nur noch ein Nullwachstum erwartet, während der Internationale Währungsfonds für 2012 eine Erholung mit einem Wachstum von 3,9 Prozent voraussagt. Verschiedene Bereiche haben aber durchaus Ausbaupotenzial, und insgesamt könnten sich laut den Einschätzungen von GTAI eine erhöhte Transparenz und mehr Rechtsstaatlichkeit positiv auf das Investitionsklima auswirken.
Der Chef von Siemens Tunis, Slim Kchouk, findet, dass die Wirtschaftsprogramme sämtlicher Parteien nicht sehr überzeugend seien. Aber um seinen Betrieb ist er unbesorgt. Während der Revolution hätten sie nur einen halben Tag die Arbeit ausgesetzt. Und obwohl neue Großaufträge noch etwas auf sich warten lassen, ist er optimistisch, dass sich mit der erwarteten Stabilisierung alles normalisieren wird.
Auch beim Kabelsystemhersteller Leoni halten sich die Sorgen in Grenzen. Zwar habe es auch bei ihnen kurze Streiks gegeben, und sie seien zu Lohnerhöhungen von durchschnittlich 10 Prozent gezwungen gewesen, sagt der Geschäftsleiter Mohammed Rouis. Aber Tunesien bleibe auch jetzt ein attraktiver Produktionsstandort. Kurze Transportwege nach Europa, verhältnismäßig immer noch niedrige Lohnkosten, Steuervorteile und der im Vergleich hohe Bildungsstand, besonders was Ingenieure betrifft, sprechen für Tunesien.
Ein Unternehmen wie Desertec, das mehr in Jahrzehnten als in Monaten und Jahren denkt, sieht die tunesische Revolution ohnehin als eine positive Entwicklung, die gezeigt habe, dass ökonomisch sinnvolle und nachhaltige Projekte künftig gefragt seien, wie uns der Pressesprecher Klaus Schmidtke in Tunis erläutert. Die Desertec-Initiative will bis 2050 die Stromversorgung revolutionieren und bis zu 15 Prozent des Strombedarfs in Europa mit erneuerbarer Energie aus der Wüste decken. Darin sieht sie ein großes wirtschaftliches Potenzial für Tunesien und andere nordafrikanische Länder.
In Sfax schließlich werden wir von einer ganzen Delegation lokaler Wirtschaftsvertreter empfangen. Beim gemeinsamen Abendessen werben sie für Investitionen und Ferien in Tunesien – in der Überzeugung, dass ihr Land voller Optimismus in eine demokratischere Zukunft blicken dürfe, vorausgesetzt, die Wirtschaft erholt sich in absehbarer Zeit. Wir wünschen es den Tunesierinnen und Tunesiern von Herzen.
Organisiert und begleitet wurde die Reise von Tabea Grzeszyk (Deutschlandradio Kultur) und Sandra Zistl (Focus Online). Wir danken den Förderen dieser Reise: der Hanns-Seidel-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Goethe-Institut, dem Kabelhersteller Leoni, dem Touristikunternehmen TUI sowie dem tunesischen Fremdenverkehrsamt.