Ein Jahr nach dem Krieg

Recherchereise nach Georgien im Juli 2009

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Der Krieg um die separatistischen Gebiete Südossetien und Abchasien hat im Sommer 2008 die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt. Ein Jahr danach konnte im Kaukasus von Stabilität  keine Rede sein. Neue Konflikte lauerten und konnten jederzeit wieder ausbrechen. Wir, eine 12-köpfige Gruppe von Print- und Radiojournalisten, sind im Juli 2009 nach Georgien aufgebrochen, um diese Spannungen aus nächster Nähe mitzuerleben und darüber zu berichten.

Die Reise begann sehr gemütlich in der Russischen Botschaft zu Berlin. Pressereferenten schilderten uns die russische Sicht der Dinge und führten uns ein Propagandavideo mit drastischen Kriegsbildern vor – welch stimmungsvoller Auftakt für unsere Reise in den Kaukasus.

In Georgien angekommen, begegneten wir zunächst dem georgischen Ombudsmann Sozar Subari. Er zeigte uns Bilder und Videos von Übergriffen auf Oppositionelle – georgische Politiker tun das gerne. Von Subari muss man sagen, dass er sich nicht als Politiker versteht, sondern als Beauftragter des Staates, um die Bürger vor eben diesem Staat zu schützen, wie Reise-Mitorganisator Matthias Braun in einem seiner Berichte treffend beschrieben hat.

Opposition auf Regierungskurs

Angehörige der Bombenopfer von Gori berichten von ihren Erlebnissen im Georgien-Krieg.

Angehörige der Bombenopfer von Gori berichten von ihren Erlebnissen im Georgien-Krieg.

Irgendwann möchte Subari ein Politiker sein wie der prominente Oppositionsführer Irakli Alasania, den wir anschließend trafen. Alasania ist ein ehrgeiziger Politiker, außenpolitisch beschlagen aufgrund seiner Tätigkeit als georgischer Botschafter bei den Vereinten Nationen während des Georgien-Krieges. Alasania, wie die gesamte Opposition, hat schwerwiegende Profilierungsschwierigkeiten. Denn er teilt seine Ziele mit Präsident Saakaschwili und will nicht von dessen Westkurs abweichen – auch wenn das ungeschickte Vorgehen der Regierung im letzten Jahr Hunderte Todesopfer gefordert hat. Eine Interpretation, die der stellvertretende Verteidigungsminister Georgi Muchaidze im Gespräch mit uns natürlich zurückgewiesen hat.

Am zweiten Tag ging es dann richtig los mit unserer Reise durch Georgien. Zunächst besuchten wir Mitarbeiter der europäischen Überwachungsmission EUMM in Mtscheta, der alten Hauptstadt Georgiens.
Eine Fahrt zu einer Beobachtungsstelle an der Demarkationslinie zu Südossetien ermöglichte vielen von uns, erstmals abtrünniges Territorium zu erblicken – und sei es nur durchs Fernglas. Eine perfekte Ergänzung hierzu bot ein Treffen mit Georgiern aus Südossetien und dem benachbarten Achalgori-Tal. In der Flüchtlingssiedlung Tserovani berichteten sie uns vom Krieg und ihrem Leben ein Jahr danach. Der Leiter der EUMM, Hansjörg Haber, hat uns später in Tbilisi seine Sicht der Dinge dargelegt.

Opfer der Bomben in der Stalin-Stadt Gori

Hier wurde Stalin geboren: Gori.

Hier wurde Stalin geboren: Gori.

Nächste Station war die Stadt Gori, Geburtsort Stalins, teilweise schwer bombardiert im letzten Sommer. Der Besuch des Stalinmuseums samt Geburtshaus des wilden sowjetischen Diktators verschaffte uns einen interessanten Einblick in die Geschichte. Die lokalen Behörden lieferten uns Daten und Fakten zu den Kriegsfolgen – dank den unermüdlichen Bemühungen unseres georgischen Übersetzers Temo.
Das Foto eines Mannes vor einem der zerstörten Wohnblocks von Gori mit seinem getöteten Bruder in den Armen ging letztes Jahr um die Welt und wurde zum Symbol dieses Krieges. Wir trafen eine Gruppe von Angehörigen der Opfer in der Bücherei, interviewten und fotografierten sie, auch in ihren Wohnungen. Viele von uns haben diese Erzählungen für Berichte verwendet, so Oliver Bilger ausführlich in der Süddeutschen Zeitung.
Die Fahrt nach Batumi, der Hauptstadt der autonomen Region Adscharien am Schwarzen Meer, war einfach erschöpfend. Die letzte halbe Stunde Fahrt ließ aber Gutes erahnen: Wir tauchten in ein tropisches Mikroklima ein. Darum also die schrille Sommerbekleidung unseres Fahrers, ein Armenier aus Tbilisi. Und in der Tat: Die Hitze war tropisch in Batumi. Die Stadt befindet sich im Wandel: Überall wird gebaut und Saakaschwili, wie unserer Kollege Daniel Wechlin in der Neuen Zürcher Zeitung beschrieb, hat die Region fest im Griff.

Grenzgänger an der Demarkationslinie

Im Interview: Georgische Flüchtlinge und Politiker an der Grenze zu Abchasien.

Im Interview: Georgische Flüchtlinge und Politiker an der Grenze zu Abchasien.

Nach einer weiteren anstrengenden Fahrt erreichten wir Sugdidi, wo wir die dortige Mannschaft der EU-Zivilmission besucht haben. Unbewaffnet bewachen sie die Demarkationslinie zu Abchasien.
Nach einem ausführlichen Briefing begleiteten uns die EU-Mitarbeiter zur Ruchi-Brücke, die jeden Tag Dutzende ethnische Georgier zwischen Abchasien und dem real existierenden Georgien passieren. Wir erfuhren, was genau die Europäer über das Geschehen auf der anderen Seite wissen.
Während der ganzen Reise begleitete uns die Frage: Werden wir Präsident Saakaschwili treffen? Zahlreiche Kontakt-Versuche hatten keine konkrete Zusage erwirkt. Dass es am Ende nicht geklappt hat, war keine Tragödie. Dafür haben wir einen seiner engsten Vertrauten getroffen, den Minister für Wirtschaftliche Entwicklung, Lascha Zhvania. Auch bei einem Treffen mit dem Vertreter des Internationalen Währungsfonds konnten wir uns mehr Klarheit über die wirtschaftliche Situation in Georgien verschaffen.

Über ein Dutzend Zeitungsberichte verschiedener Art, eine längere Radioreportage und sechs Agentur-Features sind das Ergebnis dieser Reise nach Georgien. Zum ersten Jahrestag des Krieges haben 12 junge Journalisten über die Situation vor Ort berichtet und den Blick auf die menschlichen Schicksale des Kaukasus-Konflikts gerichtet – mit Informationen aus erster Hand.

Bleibt zu erwähnen, dass die Gruppendynamik einfach perfekt war, und dass das Essen in Georgien sehr gut ist, der Schnaps aber – „Tschatscha“ genannt – etwas zu stark.

„Georgien 2009 – Ein Jahr nach dem Krieg“ wurde von Matthias Braun und Guillem Sans Mora organisiert und von der Robert-Bosch-Stiftung und der Lufthansa unterstützt.