Zwischen Macht und Ohnmacht: Indien vor den Wahlen

Recherchereise nach Indien im November 2013

Text: Anne Schade – Foto: Jürgen Webermann

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Er hat sich in seinem Büro einen kleinen Schrein gebaut: Auf einem Tischchen steht ein Teller mit Blütenblättern, daneben leuchtet eine Kerze auf das Foto von Abijit Dutt. Der Mann, mittleres Alter, indische Oberschicht, lächelt milde in die Kamera. Dutt will mit seiner Partei, der Kongresspartei, das schaffen, was schon bei der letzten Parlamentswahl vor vier Jahren gelungen ist: Die Mehrheit holen und weiter regieren. Darum zieht er durch seinen Wahlkreis, ein Slumgebiet, spricht vor Anwohnern und erinnert sie, dass es Indien doch gut gehe, viel besser als vor einigen Jahren. Das Parlament tue alles, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Nein, eigentlich gebe es kaum Probleme im Land, sagt er.

Dutt ist sicher einer der polarisierendsten Gesprächspartner, die wir – eine Gruppe junger Journalisten aus Deutschland und der Schweiz – während unserer Recherchereise im November 2013 in Indien treffen. Eine Woche lang haben wir die Möglichkeit, das politische Geschehen vor der Parlamentswahl im Frühjahr 2014 in Indien kennenzulernen. Also: Welche Themen sind im Wahlkampf wichtig? Wer organisiert die Wahl? Wie funktioniert das elektronische Wahlverfahren? Ist das sicher? Warum sind ausländische Wahlbeobachter nicht zugelassen? Und welchen Wahlversprechen kann man überhaupt glauben?

Um Antworten zu finden, reisen wir von Delhi nach Jaipur und von dort ins Dorf Soda, bevor wir nach Mumbai fliegen, die größte Stadt des Subkontinents. Wir laufen durch die Straßen und sprechen bis spät abends mit Anwohnern und insgesamt über 20 Experten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft – die meisten sind anderer Meinung als Dutt, der Funktionär der Kongresspartei. Tatsächlich muss man nur wenige Minuten in einer der Metropolen unterwegs sein, um die Probleme des Landes zu sehen. Millionen Inder verdienen weniger als zwei Dollar am Tag. Etliche schlafen auf der Straße, ohne warme Decken und Matratzen. Überall arbeiten Kinder, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. Korruption verhindert, dass Hilfsmittel bei den Armen ankommen. Smog liegt über den Großstädten, Müll stapelt sich am Straßenrand. Etliche Flüsse (auch die heiligen) erinnern mehr an Kloaken als an Süßwasser. Die stinkende Seite der indischen Industrialisierung.

„Wir brauchen einen Wandel“, sagt einer von Dutts Gegenspielern: Trivedi Sudhanshu von der Bharatiya Janata Party (BJP), der anderen großen indischen Partei. Einheimische Investoren setzten eher auf ausländische Unternehmen als auf ihre eigene Wirtschaft. Zu viel Geld fließe in ein korruptes System. Eine Reform der Polizei sei dringend notwendig. Denn deren Mitarbeiter blieben oft untätig, wenn sie gebraucht würden. Die BJP verspricht diesen Wandel und mit Narendra Modi einen charismatischen Führer. Bei einer Wahlkampfveranstaltung beobachten wir, wie die Partei ihre Anhänger mobilisiert – und die frenetisch jubeln. In Umfragen liegt die BJP mittlerweile vorne.

„Ich halte die BJP für gefährlich“, sagt hingegen Simran Sodhi, Journalistin bei „The Statesman“. Sie selbst gehört der religiösen Gruppe der Sikhs an und befürchtet unter einer BJP-dominierten Regierung Repressionen gegen Minderheiten. Die BJP wolle ein Indien der Hindus schaffen, sagt sie, „wo haben wir da Platz?“ Sodhi selbst sieht dringenden Handlungsbedarf in Indien, vor allem, was die Sicherheit der Frauen anbelangt: „Ich gehe nicht gerne alleine vor die Tür“, sagt sie. Das Thema sei – trotz schwerer Gewaltverbrechen gegen Frauen in der jüngsten Vergangenheit – im Wahlprogramm der Parteien noch nicht präsent genug.

Die Repräsentantin von UN Women India, Dr. Rebecca Tavares, sieht das ähnlich: „Oftmals wird Gewalt gegen Frauen nicht geahndet, obwohl es Gesetze gibt.“ Eine Reihe von Kampagnen habe ihr Team bereits aufgestellt, um darauf aufmerksam zu machen. Unter anderem sind das Programme, die Männer in ihrer Vorbildfunktion unterstützen, wenn sie Verbrechen gegen Frauen anzeigen. Tavares sieht erste Erfolge: „Immer mehr Männer setzen sich dafür ein, dass Gewalt gegen Frauen bestraft wird.“

Bürgermeisterin Chhavi Rajawat hat in ihrem Dorf Soda, einer 6000-Einwohner-Gemeinde in Rajasthan, mit einfachen Mitteln ein besseres Lebensumfeld für die Bewohner geschaffen. Die studierte Betriebswirtin führt uns im Dorf herum und zeigt uns unter anderem die Toiletten: Plumpsklos vor einigen Häusern. Als Chhavi Rajawat ihren Dienst in Soda antrat, hatte kaum ein Haus im Ort ein Badezimmer. Damals erleichterten sich die Männer am Straßenrand und auf den Feldern. Bei Frauen war das verpönt. Ihnen blieb nur eines übrig: zu warten, bis es Abend ist – und sich dann auf die Felder zu schleichen, um ihr Geschäft zu verrichten. Tagsüber tranken sie wenig, um nicht in Bedrängnis zu kommen. Manchmal seien die Frauen nachts von Schlangen gebissen worden, erzählt Rajawat. Für sie war klar: Das muss sich ändern. Sie sammelte Spendengelder, ließ Toiletten und eine Trinkwasser-Aufbereitungsanlage errichten und das Angebot der Schulen verbessern. „Ohne Bildung bleibt den Kindern nur die Feldarbeit“, sagt sie uns. Ein Anfang sei in Soda gemacht, aber es bliebe noch viel zu reformieren.

Auch in Mumbai sehen wir, wie Arbeit an der Basis funktionieren kann: bei der NGO „Magic Bus“. Die Organisation entwickelt Programme, die möglichst viele Kinder und Jugendliche in den Slums des Landes erreichen soll. Das Konzept ist einfach: Ehrenamtliche Helfer begleiten die Kinder bis zur Volljährigkeit. Sie bieten ihnen ein Sportprogramm an und klären sie nebenbei über Bildung, Gesundheit, Gleichberechtigung und eigenständigeLebensführung auf. Rund 250.000 Kinder machen heute bei dem Programm mit. In den Slums der Stadt treffen wir einige von ihnen und erfahren, dass viele selbst mal ehrenamtliche Helfer bei Magic Bus werden wollen.

Was bleibt nach einer Woche Indien? Das Land ist zu groß und vielfältig, um es in seiner Ganzheit zu erfassen zu können, selbst wenn man hier mehr Zeit hätte. Was wir aber von der Reise mitnehmen sind vielfältige Eindrücke von intensiven Begegnungen – und eine riesige Neugier auf das Ergebnis der Wahl im Frühjahr.

Die Reise wurde organisiert von der Gesundheitsjournalistin Martina Merten, der Radiojournalistin Katja Keppner und Michael Anthony, dem Gründer von journalists.network. Sie wurde konzeptionell vom ARD Hörfunkstudio Südasien in Neu Delhi und finanziell von der Robert Bosch-Stiftung sowie der BMW-Stiftung Herbert Quandt unterstützt.