Erst Wachstum, dann Demokratie?
Recherchereise nach Ruanda im Januar 2011
Text: Nicole Basel – Fotos: Philipp Lichterbeck
In Ruanda erzählt man sich gerne einen Witz: „Wer bei uns etwas werden will“, heißt es da, „der muss entweder eine Frau sein oder ein Gorilla.“ Warum das witzig ist? Weil es absurd klingt. Und weil es stimmt. Die wilden Berggorillas sind Ruandas größte Touristenattraktion und drittgrößte Einnahmequelle. Und die Frauen? Die brauchen die acht Journalisten, die im Januar 2011 durch das Land reisten, nicht lange zu suchen. Erfolgreiche Frauen gibt es dort überall.
Der Bürgermeister der Hauptstadt Kigali: eine Frau. Auf ihrem Stellvertreterposten: eine Frau. An der Spitze einer expandierenden Ziegelfabrik, in der Führung des Landwirtschaftsministeriums, auf den vielen Baustellen des Landes, in der Leitung einer Handwerkskooperative, auf mehr als der Hälfte der Sitze des Parlaments… – Frauen, Frauen, Frauen. Wohin man auch kommt. Sie verblüffen genauso wie der grenzenlose Optimismus der Ruander. Vielleicht rührt er daher, dass man in einem Land, in dem eine Million Menschen während eines bestialischen Völkermords getötet wurden, gar nicht zurück blicken möchte. Vielleicht kommt er aber auch daher, dass sich in Ruanda wirklich etwas tut.
In Kigali entsteht mit dem Convention Center eine der größten Kongresszentren Afrikas, die Korruption wurde massiv bekämpft, die Schulpflicht auf neun Jahre erhöht. Brandneue Straßen durchziehen das Land immer weiter, genau wie ein Glasfaserkabel für Highspeed-Internet. Die Weltbank schwärmt von einem der besten Reformländer, der Hunger ist einigermaßen bekämpft, die Versorgung mit Elektrizität kommt voran. Ruanda ist zudem das erste Land Afrikas mit einer verpflichtenden Krankenversicherung. Vor allem aber weiß es, wo es hin will. Die Vision 2020 ist der Masterplan der Regierung. Er soll Ruanda helfen, den Schritt der Industrialisierung zu überspringen und direkt von einem Agrarland zum IT- und Dienstleistungsstandort zu werden.
Es gibt viele Gründe warum Ruanda eine Zeit lang in der Presse als Musterland Ostafrikas gefeiert wurde. Doch gerade im vergangenen Jahr wurde es auch heftig kritisiert, Präsident Kagame als Diktator und Despot bezeichnet, fehlende Meinungs- und Pressefreiheit bemängelt. Manche Oppositionskandidaten wurden zu den Präsidentschaftswahlen 2010 nicht zugelassen, Amnesty International sprach von einem „Klima der Angst“.
Ziemlich viel schwarz-weiß also. Und ziemlich viel zu recherchieren für die acht Journalisten. Also: Alle rein in den klapprigen Toyota-Bulli, der sich – trotz Buckelpisten – als erstaunlich zähes Gefährt erweist und die Gruppe in die entferntesten Dörfer bringt.
Zunächst führt die Reise zu einer Photovoltaikanlage – und damit direkt zu einem der wichtigsten Themen in Ruanda: Energie. Das kleine Land hat kaum Rohstoffe, was Fluch und Segen zu gleich ist. Einerseits ist dies wohl einer der Gründe für die politische Stabilität, die derzeit im Land herrscht – schließlich gibt es hier kaum etwas zu holen. Andererseits wird für die weitere Entwicklung dringend Elektrizität gebraucht. Gerade einmal neun Prozent der Ruander haben derzeit einen Stromanschluss.
Photovoltaik also. Die Anlage in der Nähe der Hauptstadt Kigali ist zwar die größte Afrikas – und dennoch ernüchternd klein. Ihr Anteil an der Versorgung des Landes ist kaum in Prozent anzugeben. Mehr Mut machen da schon die vielen kleinen Wasserkraftwerke im Land und nicht zuletzt der Kivu-See, Ruandas große Hoffnung. Im See sind 65 Kubikkilometer Methangas gelöst. Gelingt es, dieses Gas in großen Mengen aus dem Wasser zu ziehen, wäre das Strom für viele Jahrzehnte. Ruanda könnte zum Energieversorger der ganzen Region werden.
Bei der Fahrt mit dem Militärboot zur Pilotplattform Kibuye I wird einem dann aber doch etwa mulmig. Könnte nicht ein kleines Erdbeben dazu führen, dass das Gas am Grund des Sees plötzlich entweicht und alles explodiert, wie mehrere Medien berichteten? „Es kann gar nichts passieren“, sagt Alex Kabuto mit einem Lächeln. Er hat die Plattform gebaut und spricht etwas deutsch, da er in Stuttgart studiert hat. Auch das fällt auf: Fast alle, die in Ruanda etwas zu sagen haben, haben ihr Fach im Ausland gelernt oder sind gar komplett im Exil aufgewachsen. Die Landwirtschaftsministerin, die die Journalistengruppe trifft, hat in den USA studiert, der Ingenieur bei der Welthungerhilfe lernte sein Handwerk in China. Die eigenen Hochschulen scheinen bei der Ausbildung des Führungsnachwuchses noch keine große Rolle zu spielen.
Wie sehr Ruanda trotz aller Bemühungen noch vom Westen abhängig ist, zeigt auch die weitere Reise durchs Land. In Butare hilft etwa die Welthungerhilfe, mit Bewässerungsprojekten die Reisernte effizienter zu machen. In der Nähe von Gisenyi bildet die Handwerkskammer Rheinhessen Schreiner und Korbflechter aus. Doch immer wieder zeigt sich auch, wie sehr die Ruander für ihre Zukunft kämpfen, wie viel sie selbst auf die Beine stellen. In Nyirangarama etwa liegt das Reich von Sina Gérard. Der Mann, der mit seinem fiesen Blick auch gut als Gangster in einem Quentin-Tarantino-Film mitspielen könnte, hat gleich neben der Straße etwas aufgebaut, das man in Deutschland wohl als Autobahnraststätte bezeichnen würde. In Ruanda fehlt dafür natürlich die Autobahn.
Rund 2000 Menschen, so sagt er, beschäftige er heute. Zu seinem Imperium, das er Urwibutsu Enterprises genannt hat, gehört nicht nur die Raststätte, sondern auch ein Hotel, Landwirtschaft, ein Catering-Service und eine Saftfabrik. Vor kurzem hat er eine Schule für die Kinder seiner Angestellten eröffnet.
Überhaupt, die Kinder. Sie sind überall. Sie strahlen, laufen neben dem Toyota-Bus her, rufen „Abazungu! Abazungu!“ – „Weiße, Weiße!“. Herzzerreißend fröhlich. Über die Hälfte der Bevölkerung Ruandas ist unter 20. Die Überbevölkerung ist das wohl größte Problem des Landes, kein anderes Land in Afrika ist so dicht besiedelt: Neun Millionen Menschen wohnen auf einer Fläche so groß wie Mecklenburg-Vorpommern. Das hat auch für die Reisegruppe im Toyota Konsequenzen: Selbst wenn öffentliches Urinieren in Ruanda erlaubt wäre – es geht kaum, weil selbst fernab der Städte überall Menschen sind. Immerhin kann man so einen Blick in die Häuser der Menschen werfen, wenn man wieder irgendwo in einem kleinen Dorf mit Händen und Füßen darum bitten muss, doch mal das Plumpsklo benutzen zu dürfen.
Für das Land sind die vielen Kinder sicher ein Problem – aber auch eine Chance. „Wir brauchen so viele Gehirne wie möglich“, sagt etwa Nkubito Bakuramutsa. Bakuramutsa soll dazu beitragen, dass aus den vielen Kindern die IT-Experten von morgen werden. Dafür hat er von der Regierung bislang 67 000 Laptops bekommen. Er ist der Leiter des „One Laptop per Child“-Projekts. Jedes Schulkind in Ruanda soll einen eigenen Computer erhalten. Das ist der Plan.
Es ist ein Plan, der befremdlich wirkt, wenn man weiß, dass laut World Food Programme die Hälfte der Kinder in Ruanda mangelernährt ist. Das Problem ist, sagt Bakuramutsa, dass er nie mit der IT-Ausbildung anfangen könne, würde er darauf warten, dass alle anderen Probleme beseitigt sind.
Die Kinder der Kagugu Schule gehören zu den ersten, die Computer bekommen haben. Eric, ein Junge in blauer Uniform, ist einer davon. Er hat all seine Mathe-Aufgaben erledigt und bekommt nun seine Belohnung: Eric darf im Internet surfen. Manchmal schaut er dann nach, wie seine Lieblingsfußballvereine gespielt haben. Heute sucht er nach etwas anderem. „Barack Obama“, gibt er bei Google ein. „Das ist der Präsident von Amerika“, sagt er stolz. Ruanda orientiert sich am Westen, vor allem an den USA. In Erics Schule wird Englisch gesprochen. Aber wenn man mit Regierung svertretern spricht, dann zeigen sich auch andere Vorbilder: China, Singapur, Diktaturen, aber wirtschaftlich enorm erfolgreich. Es bleibt eine der großen Fragen der Reise: Wie steht es um die Demokratie in Ruanda? Wann wird Präsident Kagame sein strenges Regiment etwas lockeren und hat er es überhaupt vor? Ist das Land, in dem der Großteil der Menschen nicht lesen und schreiben kann, überhaupt reif für die Volksherrschaft?
Um eine Antwort zu finden, hat die Gruppe den Generalstaatsanwalt des Landes interviewt, sie war beim größten Radiosender Ruandas und hat in einem Wiedereingliederungsprojekt für Kombattanten recherchiert. Die Journalisten haben in einer ländlichen Krankenstation gesehen, wie die Krankenversicherung funktioniert, mit Simon Gasibirege, dem bekanntesten Psychologen des Landes, diskutiert, wie die Versöhnung vorankommt, mit dem Chef der Genocide Tracking Unit über die internationale Fahndung nach Völkermord-Beteiligten gesprochen. Sie waren auf der Sendestation der Deutschen Welle in Kigali, von wo aus ganz Afrika mit Radioprogrammen versorgt wird. Und sie haben in der deutschen Botschaft erfahren, welche Rolle Deutschland in Ruanda spielt.
Mit vielen Fragen sind die Journalisten nach Ruanda gekommen. Welche Antworten sie gefunden haben? Das ist in diesen Wochen im Fernsehen, Radio, in Magazinen und Zeitungen zu erfahren.
Organisiert wurde diese Recherchereise von Dennis Buchmann (Betterplace.org), Philipp Lichterbeck (Tagesspiegel), Lennart Laberenz (Filmemacher) und Dirk Liesemer (freier Journalist). Großzügig gefördert wurde die Reise vom Evangelischen Entwicklungsdienst, von World Vision, der Welthungerhilfe und Brussels Airlines.