Mit “Afrikapitalismus” und Polit-Aktivismus gegen Gewalt und Korruption
Recherchereise nach Nigeria im März 2018
Text: Anne Waak – Fotos: Michael Stürzenhofecker
Nigeria ist den meisten Menschen der nördlichen Hemisphäre vor allem im Zusammenhang mit der Terrormiliz Boko Haram ein Begriff. Im Frühling 2018 bereisten 10 junge deutsche Journalisten das mit 190 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste afrikanische Land, um ein differenzierteres Bild der Lage zu gewinnen – vor allem von der Jugend vor Ort. Die gewinnt nämlich immer mehr an Gewicht; die Geburtenrate von 5,7 Kindern pro Frau in Nigeria ist eine der höchsten der Welt. Es sollten zehn lehrreiche Tage werden, auch wenn klar wurde, dass die komplexen Realitäten Nigerias in dieser Zeit nicht zu durchdringen sein würden. “Nigeria ist in drei Jahren nicht zu verstehen”, wie der deutsche Botschafter in Abuja, Bernhard Schlagheck, beim Empfang sagte.
Der erste Termin kurz nach der Ankunft in der Hauptstadt Abuja führte zur jungen Unternehmerin Happy Amos. Ihre 28 Angestellten stellen in zwei Werkstätten kleine Kohle-Öfen aus Lehm her, auf denen es sich günstiger – weil ohne Benzin oder Feuerholz –und weniger gesundheitsschädlich kochen lässt als auf offenem Feuer. Dessen Rauchentwicklung tötet allein in Nigeria jedes Jahr 83.000 Menschen. Der Verkauf der Kochöfen ermöglicht Frauen, die als Zwischenhändlerinnen auftreten, zudem ein Einkommen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Solar Direct, ein Unternehmen, das mit kompakten Solaranlagen kleinen Unternehmern wie Frisörgeschäften und Bauern eine günstige Energieversorgung ohne die allgegenwärtigen Diesel-Generatoren ermöglichen will.
Selbstverständlich war auch Boko Haram ein Thema auf der Reise. Im Camp für sogenannte IDPs (Internally Displaced Persons) leben junge Menschen, die vor der Gewalt der Terrormiliz aus den Bundesstaaten Borno und Adamawa nach Abuja fliehen mussten. Bei Vorträgen in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung unterfütterte Hussaini Abdu, der Landesdirektor beim Kinderhilfswerk Plan International, die Erfahrungsberichte mit Expertenwissen: Die Wurzel von Boko Haram sei die Zerstörung des alten Bildungssystems durch die Kolonialherrschaft gewesen; die Tötung des ersten Führers der Miliz, Mohammed Yusuf, im Jahr 2009 habe die Gruppe veranlasst, in den Untergrund zu gehen. Bis zum heutigen Tag wurden 20.000 Menschen getötet, sieben Millionen sind direkt betroffen. Die Unterstützung in der Bevölkerung liege derzeit allerdings nur noch bei etwa fünf Prozent.
Ein anderer Konflikt, der bislang ebenso viele Menschenleben gekostet hat, über den ausserhalb Nigerias aber ungleich weniger bekannt ist, ist der zwischen nomadisch lebenden Viehhirten und sesshaften Landwirten ebenfalls im Nordosten des Landes. Dabei geht es, wie Chris Ogbonna vom Dialogue, Reconciliation and Peace Centre (DREP) darlegte, weniger um Religion, als um die durch den Klimawandel bedrohten Ressourcen Wasser und Land.
Die Lösung lautet: Good Governance
Immer wieder waren zwei Dinge Thema, die die Wurzeln vieler Probleme in Nigeria sind: Korruption und verantwortungslose Regierungsführung. Die Lösung lautet: good governance. In diesem Zusammenhang war es interessant zu erfahren, wie junge Polit-Aktivisten auf politischem Weg versuchen, ihre Lebensbedingungen und die ihrer Generation zu verbessern. Die Initiative #NotTooYoungToRun setzt sich für eine Verfassungsänderung ein, die es jungen PolitikerInnen erlauben würde, als Senats- und Präsidentschaftskandidaten anzutreten. Um auch Staatsoberhaupt Muhammadu Buhari zum Unterzeichnen der Gesetzesänderung zu bewegen, fand ein Demonstrationsmarsch durch Abuja zum Präsidentenpalast statt, an dem die Journalistengruppe teilnahm.
Anschließend ging es für uns weiter nach Lagos, dem kulturellen Zentrum Nigerias. Hier standen ein Besuch bei Wazioba FM auf dem Plan – einem Radiosender, der auf Pidgin-Englisch sendet; sowie bei der Tanzgruppe Crown Group, der international bekannten bildenden Künstlerin Peju Alatise, einer Schauspielschule und beim Festival Afropolitan Vibes, organisiert vom deutsch-nigerianischen Musiker Adel Bantu. Noch mehr von der reichen Popmusikkultur Nigerias war beim Besuch des Fela-Kuti-Museums und beim sonntäglichen Konzert seines Sohnes Femi Kuti auf dessen Konzertbühne zu erleben, im Gespräch mit dem Regisseur Clarence Peters, der unglaubliche 115 Musikvideos im Jahr dreht und der bekannten Afrobeats-Musikerin Yemi Alade, die in ihr Studio lud. Einblicke in die Literaturszene und den afrikanischen Film abseits von “Nollywood” gewährten die Schriftstellerin Lola Shoneyin und die Organisatoren des Dokumentarfilmfestivals iRep, Femi Odugbemi und Jahman Anikulapo.
Der letzte Tag der Recherchereise gehörte dann noch einmal jungen Unternehmern: Im Stadtteil Yaba, der schon das “Silicon Valley von Lagos” genannt wird, berichteten Start-ups von ihrer Arbeit und wie sie versuchen, das Leben ihrer Landsleute zu verbessern: sei es durch den diskreten Online-Verkauf von Verhütungsmitteln oder die Vermietung von Räumen und medizinisches Gerät an nicht niedergelassene Ärzte. Viele dieser Unternehmen profitieren von der Tony Elumelu Foundation, die 2018 schon zum vierten Mal fünf Millionen Dollar an insgesamt 1000 afrikanische Entrepreneure und Start-ups verteilte. “Afrikapitalismus” nennt der Unternehmer Tony Eleumelu sein Konzept und setzt statt internationaler Hilfen auf private Investitionen – vom Kontinent für den Kontinent.
Die Recherchereise nach Nigeria wurde organisiert und begleitet von Katrin Gänsler, Westafrika-Korrespondentin der taz und der Katholischen Nachrichten-Agentur KNA, und Georg Milz, der als freier Journalist vor allem für den BR, WDR und Deutschlandfunk Kultur tätig ist. Unterstützt wurde die Recherchereise vom New Venture Fund und der Heinrich-Böll-Stiftung.