Besuch beim „unbekannten Nachbarn“
Recherchereise nach Moldau im Dezember 2010
Text: Pauline Tillmann – Fotos: Pauline Tillmann & Max Kuball
Arm gegen reich, Russland gegen den Westen, transnistrischer Geheimdienst gegen friedliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) – Konflikte gibt es in dem kleinen Land zwischen der Ukraine und Rumänien genug. Also genau das Richtige für Journalisten. Trotzdem wissen auch gestandene Auslandsreporter kaum, ob es nun Moldawien oder Moldau heißt, wie man den Namen der Hauptstadt richtig ausspricht und wie das mit Transnistrien nun genau war. „Moldau – der unbekannte Nachbar“, lautete daher Ende November die treffende Überschrift der letzten Reise von journalists.network 2010. Eine Woche lang hatten die 15 Teilnehmer und Organisatoren Zeit, das Land zu erkunden – auf das Programme, Zeitungen und Nachrichtenticker bald voll sein würden von erhellenden Reportagen, Features und Hintergrundstücken. Die Organisatoren Pauline Tillmann und Oliver Bilger haben ein umfassendes Programm auf die Beine gestellt, das sich im Nachhinein wie ein klassisches Drama in fünf Akten liest.
Die Einleitung in Chisinau (sprich: Kischinau) durch NGOs, Think-Tanks und den deutschen Botschafter am ersten Tag bildet die Grundlage. Zwar gibt es in Moldau (nicht etwa Moldawien, das erinnert bloß an die Sowjetunion) nur vier nennenswerte Parteien, aber diese halten nach Einschätzung der Experten nicht wirklich das, was sie versprechen: Die Kommunisten sind keine Kommunisten, die Liberalen nicht liberal. Das wäre allein nicht weiter schlimm, wenn die Verfassung nicht eine Drei-Fünftel-Mehrheit forderte, die weder die Kommunisten noch die gegnerische Dreier-Koalition erreicht. Die Reise findet in der Woche nach der Parlamentswahl statt, deren Ergebnis wieder einmal ein Patt gewesen ist.
Mit diesem politischen Background steigen die Teilnehmer am zweiten Tag in den Bus: ein Erlebnis, das sich noch oft und in aller Ausgiebigkeit wiederholen soll. Der Besuch eines Werks des Baustofferzeugers Knauf ist der Beginn des zweiten Aktes. Gekennzeichnet ist dieser bekanntlich durch die Steigerung, das sogenannte erregende Moment. So ließe sich das Festbankett des Werkdirektors am Abend in der „Golden Hall“ von Balti (sprich: Bälts) deuten. In Moldau ist ein Fest nur dann gelungen, wenn sich die Tische biegen. Als gegen Mitternacht die aufgetragenen Platten die dritte Schicht auf der Tafel bilden, der Chef der Handelskammer zum Reigen auffordert, Band und Tanzgruppe ihr Äußerstes geben, ist klar: Die meinen es ernst.
Der Besuch in der Freihandelszone Balti und der Rundgang durch ein Werk von Südzucker lassen am nächsten Tag besonders bei den Wirtschaftsjournalisten die Spannung weiter wachsen. Schon auf der Fahrt zum Weingut ändert sich am Nachmittag die Kulisse, Schnee prägt von nun an die Reise, was die Spannung weiter wachsen lässt. Im Chateau Vartely, einem Weingut, das von einem Winzer mit deutscher Fachhochschul-Ausbildung geleitet wird, schmecken die Reisenden, dass das bekannteste Exportgut Moldaus zu Unrecht einen zweifelhaften Ruf hat.
Schon am nächsten Tag, noch immer Teil des zweiten Aktes, hat sich die Wetterlage zugespitzt. Die Busfahrt beginnt um 5 Uhr, die Straßen sind so verschneit, dass die Gruppe auf dem Weg durch Moldau und die Ukraine kaum vorankommt. Gegen Mittag dann der Besuch bei EUBAM, der Grenzmission der EU, an der Grenze zwischen Transnistrien und der Ukraine. Mit Hilfe der Truppe, die von Brüssel bezahlt wird, sollen der Schmuggel von Waffen, Drogen und Menschen zwischen Transnistrien und dem Rest der Welt unterbunden werden. Überhaupt Transnistrien: Ein Land mit einer halben Million Einwohner, gestützt von Moskau, aber nirgends anerkannt. Aus den Motivationsschreiben der Teilnehmer ging hervor: Da wollen alle hin.
Der dritte Akt konnte also beginnen: mit dem Höhepunkt, mit der Krise. Die Gruppe ist an der Grenze nicht angemeldet oder richtig akkreditiert, die Kommunikation schief gelaufen, der zuständige Geheimdienstmann sitzt an einem anderen Checkpoint, der Gesprächspartner wartet mehr als 100 Kilometer entfernt und am schlimmsten: Niemand weiß, wie viel Schmiergeld eine Einreise kostet. Also langes Warten. Schließlich die Ansage: Keine Durchfahrt. Bedeutet: Zurück durch die Ukraine. Vor der Gruppe liegen wieder sechs Stunden Busfahrt, keine Spur von Restaurants. Das Einzige, das am Wegrand liegt sind Tankstellen – mit einer Toilette für 15 Leute. Und eine Suppenkaschemme mit Borsch und Wodka.
Gleich am nächsten Tag nimmt sich Premierminister Vlad Filat eine Stunde Zeit für ein Interview. Danach der zweite Versuch an der Grenze zu Transnistrien: Wieder langes Warten, Pässe werden eingesammelt, zurückgegeben. Doch diesmal steht die Gesprächspartnerin, Oxana Alistratowa von der NGO Interaction am Grenzübergang, die Einreise klappt. In dem „Staat“ herrschen ungewohnte Zustände: Eingegrabene Panzer sind an der Schnellstraße in die Hauptstadt Tiraspol zu sehen, das Gespräch mit Alistratowa überwacht ein Geheimdienstmann. Abends geht es zurück, die Ausreise dauert nur wenige Minuten. Der dritte Akt ist geschafft.
Das Bild von Moldau wäre nicht komplett, wenn nur über Premierminister, Weinbau und üppige Bankette berichtet werden würde. So folgt am nächsten Tag das Kontrastprogramm, der Besuch bei den Sozialprojekten der österreichischen Hilfsorganisation „Concordia“. Zu bedürftigen alten Menschen in armen Gegenden kommt dank der Spendengelder Essen auf Rädern – nicht auf Rädern von VW-Polos wie in Deutschland, sondern von Pferdewagen. Denn in vielen Dörfern sind Autos die Ausnahme. Die Besuche bei den Alten und anschließend in einem Kinderheim in Pirita – und hier hinkt der Vergleich mit dem Drama – sind mehr als ein retardierendes Element.
Alle Mitreisenden sind sich einig, dass der Eindruck vom ärmsten Land Europas andernfalls unvollständig geblieben wäre. Anschließend erklärt Martin Wyss von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), warum es so viele Waisen gibt: Knapp eine Million Moldauer arbeiten im Ausland, weil es im Land selber kaum Investoren und zu wenig Arbeitsplätze gibt. Zurück bleiben die Alten und die Jungen. Von den Kindern sind viele „Sozialwaisen“ – sie haben zwar Eltern, aber die sind nicht für sie da. Der vierte Akt macht nachdenklich.
Der fünfte ist dagegen schnell erzählt: Es herrscht Einigkeit, dass es eine spannende Reise mit vielen berichtenswerten Eindrücken gewesen ist, der „unbekannte Nachbar“ hat ein Gesicht bekommen.
Die Reise wurde von Oliver Bilger (Süddeutsche Zeitung) und Pauline Tillmann (Bayerischer Rundfunk) organisiert und begleitet. Gefördert wurde sie von den Unternehmen Knauf und Strabag.