Wahr und falsch zugleich
Recherchereise nach Indien im November/Dezember 2016
Text: Jenny Genzmer und Benedikt Schulz – Fotos: Lea Deuber
Alles, was ihr über Indien schreibt, wird falsch sein… und gleichzeitig wahr. Ein Satz, der einen Journalisten beunruhigen kann. Als wir ihn zum ersten Mal auf unserer Reise hörten, waren wir schon über eine Woche gemeinsam im Land unterwegs. Und wir wussten: Es stimmt. Aber von vorne:
Unsere Reise beginnt in Berlin mit einem gemeinsamen Mittagessen mit dem indischen Botschafter Gurjit Singh. Auch er gibt uns einen schönen Satz mit auf den Weg: „Berichten Sie, was Sie sehen – nicht das, was Sie erwarten“.
12 Stunden und 2 Flüge später, viereinhalb Stunden verloren durch Zeitverschiebung, dafür circa 20 Grad dazu gewonnen. Unser erstes Meeting in der Hotellobby in Mumbai: Vertreter von Siemens erzählen uns von ihren Visionen einer „Smart-City“, einer vernetzten, klug organisierten Stadt. Wie weit entfernt diese Vision von der Realität noch ist, lässt sich erahnen, sobald man das Hotel verlässt und die Straßenseite wechselt, wo unmittelbar ein Slum beginnt. Überhaupt die Straßen. Es ist leicht, die Verkehrssituation in Indien in einem Satz, ja in einem Wort zusammenzufassen: hup. Eine ausgedehntere Verwendung der Hupe ist uns nirgendwo sonst begegnet. Dahinter steckt entweder pures Chaos oder ein fein ausdifferenziertes Kommunikationssystem – vermutlich sogar beides.
Einen weiteren Perspektivwechsel erleben wir in der Womens University, wo wir mit Vibhuti Patel verabredet sind. Die Professorin und Vorkämpferin für Frauenrechte setzt sich seit Jahren für die Überwindung von Kasten in der indischen Gesellschaft ein. Was sie zu berichten hat, stimmt einen nicht eben optimistisch. Wie groß die gesellschaftlichen Unterschiede im Land und die damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten noch sind, erahnen wir, als wir nach unserer ersten Nacht im Hotelzimmer zu einer der größten Mülldeponien der Stadt fahren. Dort lernen Dalit-Frauen, Müll zu trennen und sich damit nicht nur ein eigenes Einkommen zu verdienen, sondern auch zur Bewältigung des Müllproblems in einer von Indiens Mega-Cities beizutragen. Wie groß das Problem der Urbanisierung ist, springt einem an jeder Straßenecke entgegen. Einer, der dem Problem im Alltag entgegentritt, ist Datar Ashok: Er macht sich Gedanken darüber, wie Verkehr und öffentliche Räume in der Stadt attraktiver gemacht werden können. Bevor Städte smart werden, sollten sie funktionieren, erklärt er uns bei einem Tee. Leicht gesagt, aber Ashok geht mit seiner NGO MESN konkrete Schritte zu mehr Lebensqualität in Mumbai. In einem Slum, der von mehreren hunderttausenden Menschen bewohnt wird, haben er und sein Team einen Ort geschaffen, wo Kinder herumtoben und spielen können – so groß wie zwei Tennisplätze. Nichts Besonderes eigentlich, aber es ist die einzige freie Fläche im gesamten Stadtviertel. Vielleicht nicht smart das Ganze, aber dringend notwendig, sagt Ashok.
Von Mumbai aus geht es mit dem Bus nach Pune, eine Industriestadt südöstlich von Mumbai, wo wir mit Vertretern der indischen Wirtschaft sprechen – über Chancen und Probleme Indiens, über Bildung, über Innovationsfähigkeit. Und es zeigt sich, was uns als roter Faden auch durch die kommenden Tage begleiten wird: Leute aus der Wirtschaft beurteilen die Situation des Landes meist deutlich positiver als andere. Indiens amtierender Premier Modi gilt als wirtschaftsfreundlich. So hält der Chef des indischen Zulieferriesen Bharat Forge, Amit Kalyani, etwa die umstrittene Bargeldreform für richtig und wichtig. Die Probleme, unter denen vor allem die Ärmsten der Bevölkerung leiden? Es sei halt keine populäre Entscheidung gewesen, sagt Kalyani. Nach der offenen Diskussion mit Kalyani finden wir uns – in weißen Kitteln mit Helmen und Schutzbrillen – auf schmalen Besichtigungswägen wieder und fahren in die Fabrikhallen, wo wir tonnenschweren, auf über 1.000 Grad erhitzten Stahlbauteilen beim Schmelzen zusehen können.
Nächster Tag, nächster Ort: Bangalore. Indiens IT-Hauptstadt wirkt gegen das wuselige Mumbai geradezu sortiert und sauber. Aber wir erfahren schnell, dass auch das wieder nur die halbe Wahrheit ist. Denn die Armut in Bangalore hat man nur konsequenter aus dem inneren Zirkel verdrängt. Inmitten eines beschaulichen Wohnviertels treffen wir Aktivisten von IT for Change, eine NGO, die sich für einen selbstbestimmten Umgang mit dem Netz einsetzt – und die mit Parminder Jeet Singh einen ziemlich meinungsstarken Chef hat. Und wir treffen Fields of View, eine NGO, die gerne zockt. Mit Simulationsspielen wollen sie unter anderem für das Müllproblem sensibilisieren, Gamification nennt sich der Ansatz. Wir spielen eine Runde Rubbish, also Abfall, und schlüpfen in die Rolle von Mülldeponiebesitzern, um deren Probleme und Herausforderungen zu verstehen. In Bangalore lernen wir noch die vitale Start-Up-Szene Indiens kennen. Und wieder fällt auf: Dort wird die Lage im Land viel positiver bewertet als etwa in den NGOs. Alles was sie berichten, wird wahr und zugleich falsch sein.
Von der sauberen, fast möchte man sagen: smarten IT-Stadt Bangalore nehmen wir den Flieger in die alte indische Hauptstadt Kalkutta. Nach einer kurzen Nacht fahren wir mit Vertretern der Welthungerhilfe in entlegene westbengalische Dörfer. Hier versuchen Bauern mit Hilfe der NGO ihre Landwirtschaft ertragreicher zu machen, ihre Ernährung zu verbessern und ihre Produktion mit verschiedenen Technologien effizienter zu gestalten. Die Bauern zeigen uns, wie sie Biogasanlagen nutzen, ihren biologischen Abfall kompostieren und biologische Düngemethoden erlernen. Wir fragen sie, wie sich ihre Arbeit als Bauern verändert hat und sie fragen uns, wo wir zuhause unser Wasser speichern und weshalb wir ihre Sprache nicht sprechen. Wir hätten gern mehr Zeit gehabt, das mit ihnen zu erörtern.
Die drei Tage im ländlichen Indien hinterlassen gemischte Gefühle bei der Gruppe. Sicher, das ist alles schon irgendwie idyllischer als in den Slums von Mumbai oder Kalkutta (oder Delhi, wie wir später noch sehen werden), aber es fehlt an Bildung, an medizinischer Versorgung. Lässt sich die Urbanisierung mit biologischer Landwirtschaft aufhalten? Zweifel sind angebracht, meinen einige von uns.
Das Kontrastprogramm zu eigentlich jeder ländlichen Region lautet: Delhi – unser nächstes und letztes Ziel. Die indische Hauptstadt fordert selbst unsere mittlerweile Taxi- und Rikscha-erprobte Gruppe heraus. Die Hupen sind lauter, die Straßen voller, die Luft trüber und die Schlangen vor den Geldautomaten länger. Noch unter dem Eindruck der verarmten Bauern in Westbengalen sitzen wir im Büro von Monsanto und diskutieren über die Zukunft der indischen Landwirtschaft. Peter Hilliges von der KfW erzählt uns von den Projekten der Investitionsbank in Indien. Und die Ökologie-Professorin und Umweltaktivistin Sunita Narain spricht mit uns über ihre Vorstellungen, wie Landwirtschaft, Luftverschmutzung und Müllberge in den Städten in Zukunft angegangen werden müssten. Ein Trainee in einem Industrieunternehmen erzählt uns: Noch nie waren die Chancen auf Bildung und Jobs für die Jugend so gut wie heute. Und das bei jährlich 12 Millionen jungen Leuten, die auf den Arbeitsmarkt drängen. Ein Student aus Delhi dagegen sagt: Das indische Bildungssystem ist ungerecht und nur darauf aus, Roboter für die indische Wirtschaft zu produzieren. Wer hat Recht? Alles, was sie berichten, wird wahr und falsch zugleich sein. Tja.
Bei den vielen Perspektiven auf das Land, die wir durch die unterschiedlichen Hintergründe unser Gesprächspartner kennengelernt haben, sind Widersprüche nicht ausgeblieben. Und jede Form von Aussage über dieses große Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern ist immer von der Gefahr begleitet, zu verkürzen, zu verfälschen. Von der Reise haben wir aber nicht nur unterschiedlichste Geschichten und Standpunkte mit nach Hause genommen. Nach unzähligen Taxi- und Rikscha-Rides, Flughafen-Warteschlangen, viel zu kurzen Nächten und Massen von Knoblauch-Naans, Palak-Paneers und Rasgulla-Nachtischen ist die Gruppe zusammengewachsen. Hier haben sich nicht nur multimediale Teams gefunden und zusammen Geschichten recherchiert, sondern es haben zwölf Menschen eine großartige, lehrreiche Zeit verbracht.
Die Reise nach Indien wurde organisiert von Sylvia Albert-Vogl (Bayerischer Rundfunk) und Lea Deuber (Auslandskorrespondentin der Wirtschaftswoche). Wir bedanken uns für die Unterstützung der Reise durch die Robert Bosch Stiftung, Henkel, Siemens, berge & meer sowie die Welthungerhilfe.