Big Debates im hohen Norden

Recherchereise nach Finnland im März 2014

Text: Daniel Sprenger – Fotos: Max Kuball & Daniel Sprenger

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„Are you famous?“ Mit dieser Frage an den Thriller-Autoren Antti Tuomainen entsteht gleich mit der ersten Begegnung unserer Recherchereise in Finnland im März 2014 das den Trip prägende geflügelte Wort. Das dürfte Organisator Max aber so nicht klar gewesen sein, als er auf die Idee kam, dass Tuomainen mehr als nur ein passables Jogi-Löw-Double sein könnte. Auf bescheidene Art wischt Tuomainen die Unterstellung größerer Bekanntheit beiseite und macht weiter mit seiner Stadtführung durch den Stadtteil Töölö (wo er auch einmal gewohnt hat). Beim Bau der in den Felsen gehauenen Kirche habe es eine „big debate“ gegeben. Auch als nahe des Busbahnhofs ein Andachtsraum aus Holz aufgestellt wurde, sei es in der Stadt zu einer „big debate“ gekommen. Und beim Bau des Kunstmuseums – oh wei, das war eine wirkliche „big debate“.

Offenbar wird in Finnland gerne und engagiert diskutiert – der Autor liefert damit einen Vorschmack auf die folgenden Tage, in denen wir uns vor allem um drei Themenfelder kümmern: Neben der finnischen Literatur und den „Wahren Finnen“ steht vor allem die Energiepolitik im Vordergrund der Reise. Und immer wieder gutes Essen.

Ein kulinarischer Vorschmack

In kulinarischer Hinsicht gibt es bereits am ersten Abend einen Vorschmack auf die Eigenheiten der finnischen Küche: Rind- und Schweinefleisch, zusammen mit Fisch durch den Fleischwolf gedreht, an Roter Beete und Kartoffelbrei. Würde unter dieser Beschreibung wohl nur wenige wahre Genießer zum Bestellen animieren, heißt deshalb nach Anregung des verehrten Staatsmannes Mannerheim schlicht „Vorschmack“. Eigenwillig, aber lecker. Und teuer: 11 Euro werden im „Sea Horse“ (einem der zwei am Sonntag geöffneten Restaurants in Helsinki) für die gar nicht mal so große Portion fällig. Und da ist der Hauptschmack noch nicht einmal mit drin…

Für die Fahrt zum Atomreaktor in Eurajoki hat Organisatorin und im richtigen Leben Halbfinnin Jenni über eine Freundin einen ganz besonderen Chauffeur organisiert: Tuomo, den Bassisten der „Lappland-Balkan-Musik“-Band Jaako Laitinen & Vääha Raha. (Tuomo wird später zugeben, dass er und die Band in Finnland durchaus „famous“ seien, zumindest in ihrer Zielgruppe. Allerdings kenne er Antti Tuomainen leider nicht, aber das nur am Rande.)

Eigenes Wasser und Naturlehrpfad am Kernkraftwerk

Beim Besuch des Kernkraftwerks auf der Insel Olkiluoto gibt es zunächst einmal gutes Essen, das von einigen von uns mit atomkritischen Witze der Sorte „Oh, der Lachs ist aber wirklich groß hier, der Atomkraft sei Dank“ und „Das Gemüse leuchtet bestimmt im Dunklen“ kommentiert wird. Die Betreiberfirma TVO reicht dazu Wasser in Plastikflaschen, die mit dem Konzernlogo und einem erklärenden Text zur Bedeutung der Atomkraft für die Energieversorgung des Landes versehen sind. Nicht jeder genehmigt sich einen Schluck davon. Leider ist das Wetter nicht so gut, so können wir den außerhalb des Besucherzentrums startenden „Olkiluodon havaintopolku“ nicht begehen, eine Art Wanderweg durch den Wald, der stets mit Blick auf die Reaktorblöcke um einen See verläuft und Flora und Fauna erklärt (und dazu auf den Schildern wirklich überdimensional große Pilze zur Bebilderung einsetzt).

Irgendwie scheinen die Finnen das Thema Atomkraft völlig anders anzugehen als die Deutschen: Man stelle sich vor, in Biblis würde Besuchern „RWE-Wasser“ zum Trinken geben, auf dem für Atomkraft geworben wird. Oder Vattenfall würde Interessierten mit dem „Naturlehrpfad Brunsbüttel“ die Schönheiten rund um den Pannenreaktor präsentieren.

Knatsch hinter der atomaren Idylle

Doch diese atomare Idylle kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hinter den Kulissen beim Bau des neuen Reaktors „Olkiluoto 3“ gewaltigen Knatsch gibt. Immer teurer wird er (mittlerweile ist von mindestens acht Milliarden Euro die Rede) und immer später soll er ans Netz gehen. Wir fragen derart kritisch und dezidiert nach, warum das Projekt solche Probleme macht und TVO sich mit Siemens und Areva juristische Scharmützel über die Kostensteigerungen und Verzögerungen liefert, dass die Areva-Pressesprecherin die Waffen streckt und stattdessen einen absurden Vergleich liefert: „Der Flughafen Berlin wird ja auch nicht fertig und immer teurer. Also!“

Zwischendurch erfahren wir, dass die TVO-Pressesprecherin mit Osmo Soininvaara zur Schule ging, einem bekannten finnischen Grünen-Politiker. Ein Phänomen, das sich oft wiederholt: Über ein paar Ecken kennen sich viele unserer Gesprächspartner. Die Freundin von Jenni, die uns Tuomo als Fahrer vermittelt hat, hat früher zum Beispiel bei Soininvaara als Babysitterin gearbeitet. Die TVO-Pressesprecherin kennt allerdings Antti Tuomainen nicht, sie lese aber auch nicht so gerne Krimis.

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Und dann geht es auch schon hinein in die wohl teuerste Baustelle der Welt: Ingenieur Derrick („wie der Kommissar“) führt uns zunächst durch Räume voller Rohre, Ventile und Anzeigen. Dann geht es weiter in Räume voller Rohre, Ventile und Anzeigen, ehe wir im nächsten Stockwerk Räume voller Rohre, Ventile und Anzeigen betreten. Uns wurde gesagt, dass es weit über tausend Räume in dem Reaktorgebäude gibt. Nach der ersten halben Stunde glauben wir, dass Derrick sie uns alle zeigen wird. Doch schließlich landen wir tatsächlich am noch leeren Reaktordruckbehälter, der überraschend klein ist. Dass Menschen so etwas bauen können… naja, oder es zumindest versuchen. Schon beeindruckend. Aber ob es wirklich das sicherste Atomkraftwerk der Welt wird? Unsere Zweifel sind noch da.

Endlager: Not the best place, but good enough

Am Abend steht ein (wieder mal sehr leckeres) Essen mit örtlichen Gemeinderatsvertretern auf dem Plan. Dort treffen wir auf Politiker, die sich für die Ansiedlung eines Endlagers für hochradioaktiven Abfall in ihrer Gemeinde ausgesprochen haben. Einer von ihnen ist Bauer, der Kohl anbaut. Wir fragen ihn, ob er gar keine Angst hat, dass das Gemüse Schaden nehmen könnte und er seine Geschäftsgrundlage verliert. Nein, antwortet er sofort. Untersuchungen der staatlichen Aufsichtsbehörde hätten ergeben, dass keine radioaktive Belastung vorhanden sei und auch keine drohe. Und Atomkraft sei allemal besser als wie in Deutschland neue Kohlekraftwerke zu bauen, die nur den Klimawandel vorantreiben würden. Der durchschnittliche Bauer im Wendland würde offiziellen Untersuchungen wohl weniger Glauben schenken und nicht seelenruhig Kohl neben dem Endlager anpflanzen, sondern stattdessen mit dem „x-tausendmal quer“-Logo am Trecker die Zufahrt zum Salzstock in Gorleben blockieren.

Dieses Grundvertrauen in staatliche Organisationen scheint stark ausgeprägt zu sein, was nicht zuletzt an der hohen Transparenz der Entscheidungswege liegen dürfte. „Ein Grund für den Ort des Endlagers an dieser Stelle ist das Haus, in dem wir uns gerade befinden“: Der Chef des Endlagerbetreibers Posiva erklärt uns von sich aus, dass seine Firma bei der Wahl des Standorts Eurajoki dem Gemeinderat versprochen habe, das am Ortsrand gelegene „Vuojoen Kartanoon“ zu sanieren. Das damals verfallene Schloss wurde für mehrere Millionen Euro auf Vordermann gebracht und zum Firmensitz von Posiva. Zeitgleich konnte mit den Arbeiten im Stollen begonnen werden. Zum Endlager selbst heißt es übrigens: „It is not the best place but good enough!“

Tief beeindruckt von dieser Art von Offenheit und von der mit Überzeugung vorgetragenen Fürsprache für Atomkraft fahren wir zurück nach Helsinki. Im Auto dann etwas völlig Eigenartiges: Junge Deutsche diskutieren völlig emotionslos über Vor- und Nachteile der Kernenergie. Was so eine Recherchereise doch bewirken kann…

Nur teilweise liberale Liberale und wahre Nazis

Am folgenden Tag treffen wir die „Wahren Finnen“, die mit ihrem Erfolg bei den Wahlen 2011 für Aufregung gesorgt haben. Sie seien im besten Fall rechtspopulistisch, haben wir im Vorfeld gelernt, mitunter sogar rassistisch, auf jeden Fall national eingestellt. Beim Besuch ihres wöchentlichen Stammtisches erleben wir die Basis vor allem als ziemlich wirr.

Da ist der laut eigener Aussage eigentlich Liberale, der aber von Sozialdemokraten und Grünen enttäuscht ist. Die Homo-Ehe sei zwar selbstverständlich zu unterstützen, sagt er, aber die Muslime – die müssten weniger Rechte haben. Eine eigenwillige Form des Liberalismus. Da ist der Christdemokrat, der eben noch gesagt hat, Nazis würden in ihren Reihen nicht geduldet, und der dann als Sitznachbarn einen am Thor Steinar-Pullover erkennbaren Nazi bekommt. Dieser wird sich später leicht drohend und schwer besoffen vor uns aufbauen und fragen: „Warum haben Sie unsere schöne Lappland gebraaaaannt?!“ Eigentlich habe er die Nazis ja wirklich gut gefunden, nur diese Politik der verbrannten Erde könne er nicht mittragen. Nunja, wir schweigen lieber.

Die jungen „Wahren Finnen“ treffen wir auch. Was aus ihrer Sicht die dringendsten Probleme des Landes sind? Die Homo-Ehe? Die schlechten Jobaussichten? Die Wirtschaftskrise? „Der Vertrag von Ottawa!“ entgegnet ein Student. Der regle nämlich das Verbot von Landminen und das sei nicht tragbar für Finnland. Man stelle sich nur einmal vor, der Russe käme wieder über die Grenze und man dürfe keine Landminen auslegen, um ihn davon abzuhalten. Das gehe einfach nicht. Zum Glück gebe es aber einen Trick, um die Landminen doch noch einsetzen zu dürfen: Wenn man sie nämlich nicht als Sprengfalle in der Erde auslege, sondern einen mit der Mine verbundenen Draht als Stolperfalle zwischen zwei Bäumen aufspanne – dann seien das keine passiven Waffen, sondern aktive und dadurch weiterhin erlaubt. Eine interessante, aber auch beängstigende Theorie.

M.A. Numminen hat seine eigene Meinung zu den „Wahren Finnen“. Der finnische Helge Schneider (als der er nicht bezeichnet werden möchte, deshalb tun wir das hier auch nicht) kommt zum Abendessen ins Restaurant „elite“. Für den Erfolgsautoren, Musiker und Allround-Künstler ist die Partei ein „Sammelbecken der Enttäuschten“. Numminen müssen wir nicht fragen, ob er berühmt ist: Eine junge Frau kommt zu ihm und fragt, ob sie ein Foto mit ihm machen könne. Kann sie. Aber nein, Antti Tuomainen, den kenne er leider nicht, sagt Numminen nach kurzer Überlegung. Nie gehört. Dafür verrät er uns die Entstehungsgeschichte seines ersten Hits, „Gebärde für drei Rülpser“: „Wir waren jung und rülpsten gern.“

Und natürlich gingen sie auch gern in die Sauna, so wie alle Finnen. Also kommen auch wir um einen Besuch nicht drum herum. In der ältesten öffentlichen Sauna in Helsinki stellen wir fest: Dem Finnen kann es nicht heiß genug sein. Auf Sauberkeit oder irgendeinen Wellnessfaktor hingegen legt er wenig Wert beim Schwitzen. So ist die Dusche der Sauna im Sporthallenschick der frühen 60er gehalten. Über Stockflecken sieht man generös hinweg, nicht jedoch über aus mitteleuropäischer Sicht nicht schon wieder zwingend nötige Aufgüsse.

Ein junger Mann kommt mit Pudelmütze herein, setzt sich auf die oberste Reihe und kippt mit dem langen Löffel von dort beständig Wasser über den völlig schwarzen Ofen. Wir halten es nicht lange aus, und auch der russische Dokumentarfilmer neben uns wartet vergeblich auf eine gute Aufnahme. Das Objektiv beschlägt ständig. Der Journalist meint noch, wir sollten nicht über Politik sprechen. Besser ist das. Ob er das mit Landminen wohl schon mitbekommen hat?

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Auf der Suche nach einem neuen Nokia

Was wir auf der Reise auch noch lernen ist, dass Finnland auf der Suche nach einem neuen Nokia ist – und das in alternativen Kraftstoffen zu finden glaubt. Bei Neste Oil produziert man Biodiesel der neuen Generation, unter anderem aus Tier- und Fischabfällen. Ja, es gebe einen Weltmarkt dafür und die Preise seien dort in den letzten Jahren stark gestiegen, weil die Nachfrage zunehme, erklärt man uns. Durch Vergärung entsteht daraus Öl und schließlich Biodiesel, der normalem Kraftstoff beigemischt wird.

Da darf Gasum, die größte Gasfirma des Landes, nicht hintanstehen: Sie produziert neuerdings auch Biogas. Das sei alles ganz toll und wichtig und die Zukunft und so, erfahren wir in einem langatmigen Vortrag. Wieviel das neue Feld denn zum Gesamtgeschäft beitrage, wollen wir am Ende wissen. „So circa ein Tausendstel“, entgegnet der Biogas-Beauftragte der Firma. Wow, fast ein Tausendstel. Das ist ja immerhin fast … ein ganzes Promill. Nicht schlecht.

„Antti is very famous!“

Aber jeder hat ja mal klein angefangen. Kann ja nicht jeder gleich als Superstar starten, so wie Krimiautor Antti Tuomainen. Beim letzten offiziellen Termin starten wir den letztmöglichen Versuch: „Do you know Antti Tuomainen?“ fragen wir die junge Autorin Leena Parkkinen. Die hat gerade ihr neues Buch abgeschlossen, das wie der Vorgänger „Nach dir, Max“ auch auf Deutsch erscheinen soll. Geschrieben hat sie es mit gebrochenem Bein auf einer kleinen Insel im Schärengarten. „Dort kennt jeder jeden“, erklärt Parkkinen. Finnland in der Nussschale also. Und tatsächlich: „Antti is very famous!“ Das sagt sie frei heraus.

Organisator Max zieht ein Gesicht, das aussagt: „Siehste, ich hab´s doch immer gewusst.“ Aber vielleicht ist Leenas Einschätzung auch etwas getrübt: Schließlich kennt sie ihn schon lange persönlich: „Wir haben zusammen in einer Werbeagentur gearbeitet. Antti saß mir am Schreibtisch gegenüber.“ Natürlich. Nach sieben Tagen sind wir nicht mehr überrascht. Auch nicht darüber, dass Leenas Vater ein guter Freund von M. A. Numminen ist.

Ob der Atomreaktor in Olkiluoto jemals fertig werden wird? Wann erhält Antti Tuomainen den Literatur-Nobelpreis? Warum denn nun haben die Deutschen im Krieg das schöne Lappland gebraaaannt? Wie wirksam ist der Einsatz von Landminen als zwischen Bäumen gespannte Sprengfalle? Und wann wird der erste Löffel erfunden, an dem der Haferschleim nicht kleben bleibt? All das konnten wir in der einen Woche nicht klären. Der Vorschmack zu – und alle Fragen offen, sozusagen. Eine weitere Recherchereise nach Finnland ist demzufolge dringend nötig.

Die Reise wurde von Jenni Roth (freie Journalistin u.a. für BR, Zeit, FAS) und Maximilian Kuball (u.a. Deutschlandradio Kultur) organisiert und begleitet. Gefördert wurde sie vom Atomkonzern Areva, vom Mineralölunternehmen Neste Oil, vom Gaskonzern Gasum, von der Stadt Helsinki, der Stadt Eurajoki sowie vom finnischen Außenministerium.