„Als putscherfahrener Türke wusste ich, was zu tun ist“
Hintergrundgespräch mit Cem Sey zur Türkei
Cem Sey geriet zufällig mitten in den Putschversuch in der Türkei – der für politische Beobachter nicht ganz so unerwartet kam, wie er im Hintergrundgespräch bei journalists.network erklärte. Als er mit dem Auto von Ankara nach Istanbul fuhr, ging es vor der Bosporus-Brücke nicht mehr weiter. Er hörte im Radio, dass das Militär einen Umsturz plante. „Als putscherfahrener Türke wusste ich, was zu tun ist – runter von der Straße und in ein Hotel“. Er hörte Schüsse, sah die Kampfjets und ahnte, dass der Versuch scheitern würde: Niemand mit Verstand putsche an einem Freitag abend in Istanbul, wenn die Leute ausgehen, alle Straßen verstopft sind.
Spekulationen, dass der Putsch von der Regierung Erdogan inszeniert gewesen sein könnte, teilt Sey nicht. Die Stimmung in der Türkei sei schon seit längerem schlecht und die Gesellschaft polarisiert gewesen. Aber er sei der Regierung natürlich willkommen gewesen.
Sey berichtet von einer „Hexenjagd“ gegen Aleviten, Kurden, aber auch Kemalisten, Liberale und Journalisten – es herrsche ein Klima der Angst, immer wieder hört er von Mobs von Erdogan-Anhängern, die sich über Andersdenkende hermachten. Seit den Gezi-Protesten gebe es organisierte Schlägertrupps der AKP, die gegen Oppositionelle vorgingen. Vor allem Medien stünden noch stärker als zuvor unter Druck. Aber auch Oppositionelle seien nun unter Zugzwang, beweisen zu müssen, dass sie nichts mit dem Putsch zu tun hatten. Gleichzeitig sei die Opposition zu zersplittert, um ein echtes Gegengewicht zur AKP zu sein.
Aber auch die EU habe versagt, erklärt Sey. Als die Türkei auf einem demokratischen Weg war, habe man ihr die „Türen vor der Nase“ zugeschlagen. Jetzt, da die Regierung Demokratie und Rechtsstaat in dem Land immer weiter beschneide, werde sie von der EU hofiert und damit quasi für ihr Verhalten belohnt. Das Land sei inzwischen stark genug, um sich von den USA oder der EU unabhängig zu machen.
Die Türkei werde nach der Neuausrichtung ihrer Innenpolitik auch die Außenpolitik umkrempeln, so Sey. Die Nato-Mitgliedschaft und den Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik sieht er eher als Verhandlungsmasse. Das Flüchtlingsabkommen sei allerdings kein Trumpf mehr in Erdogans Händen – die Europäer hätten Vorkehrungen getroffen.
Erdogans Beliebtheit lasse sich auf seine Herkunft und „Rotzigkeit“ auch im Umgang mit anderen Politikern zurückführen. Die hinter seiner Politik stehende Ideologien, Nationalismus und Islamismus, bildeten in früheren Zeiten Widersprüche. Aber nach dem Putsch 1980 hätte es eine Synthese beider Ideologien gegeben – und Erdogan diese adaptiert.
Der Einfluss Erdogans reiche bis nach Deutschland, etwa durch türkische Lobbyverbände wie UETD und den Islam-Verband Ditip mit seinen rund 900 Moschee-Gemeinden bundesweit. Vor AKP-Anhängern in Deutschland würde er nicht so offen sprechen wie bei dem Treffen mit journalists.network, für das er sich fast 3 Stunden Zeit nahm.
Randnotiz: Der Wirt der Narr Bar, in der das Treffen stattfand, selbst türkischstämmig, freute sich (auch aus nicht-kommerziellen Gründen) über die vielen Teilnehmer am Hintergrundgespräch – bei tropischen Temperaturen an einem Montagabend. Das signalisiere großes Interesse an seinem Heimatland und Anteilnahme in diesen schweren Zeiten. Das bedeute ihm sehr viel.