„Das Land ist im Umbruch.“
Recherchereise nach Brasilien im April/Mai 2016
Text: Marc Frick
„Das Land ist im Umbruch.“ – ein Satz, der in der Geschichte Brasiliens zu nahezu jedem Zeitpunkt Gültigkeit beanspruchen konnte. Ein Satz, der auch den Teilnehmern der Recherchereise des journalists.network nach Rio de Janeiro und São Paulo regelmäßig begegnete.
Stand die Reise zum Zeitpunkt ihrer Ausschreibung ganz im Zeichen des nahenden Großereignisses Olympia, wird sie – eingeholt von den sich überschlagenden Ereignissen rund um die geplante Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff – schnell zu einer Exkursion in die politischen Wirren eines gespaltenen Landes. Was der nächste Tag an Neuigkeiten bringen wird? Ungewiss und unberechenbar. Auf die Frage nach der Zukunft Brasiliens fällt dann auch immer wieder dieser Satz: „Das Land ist im Umbruch.“
Ausgesprochen mit Wut im Bauch bei einer Gewerkschaftsdemo, wo der Umbruch zum Umsturz und schließlich zum Putsch deklariert wird. Ausgesprochen mit Sorge von verschiedenen Menschenrechts-Aktivisten angesichts einer ungewissen Zukunft. Ausgesprochen mit Zuversicht und Optimismus schließlich im noblen Meeting-Raum eines renommierten Thinktanks, dessen Direktor bei frischgebrühtem Kaffee und surrender Klimaanlage eine Zukunft mit besserer „Public Policy“ herbeisehnt.
Aber der Reihe nach: Bereits die Ankunft in Rio de Janeiro steht ganz im Zeichen der sich anbahnenden Amtsenthebung von Präsidentin Dilma. Das von der konservativen Opposition angestrebte Impeachment hatte bereits im Vorfeld der Reise die nötige Mehrheit im Parlament erlangt. Zwischen der Präsidentin und ihrer 180-tägigen Suspendierung steht nur noch eine als Formsache geltende Senatsentscheidung. Grund genug für die Gewerkschaften von Rio, die Demonstrationen zum Tag der Arbeit dem Kampf für ihre Präsidentin zu widmen.
Nach einer ersten Besichtigung der Stadt nimmt uns der freie Journalist Carsten Upadek mit auf den zentralen Platz des beliebten Ausgehviertels Lapa. Die kämpferischen Reden, die abwechselnd mit stimmungsvoller Musik über die Praça am Fuße eines strahlend weißen Aquäduktes hallen, die entschlossenen Mienen der Demonstranten und die unentwegt geschwenkten Fahnen der Arbeiterpartei PT liefern uns einen Vorgeschmack auf die vielen vehement verteidigten Standpunkte, die wir in den kommenden Tagen kennenlernen werden.
Einen Einblick in die Hintergründe des Verfahrens gegen die Präsidentin bekommen wir am Morgen des zweiten Reisetages im Gespräch mit Mitgliedern der Fundação Getuilio Vargas. Der Direktor der renommierten Stiftung, Carlos Ivan Simonsen Leal, bringt die Unruhe in der Bevölkerung auf eine anschauliche Formel: „Die brasilianische Gesellschaft besteht heute zu 20% aus Linken und zu 20% aus Konservativen. Die Mehrheit von 60% will jedoch einfach nur eine anständige Politik.“
Nach kurzer Busfahrt erwartet uns am Nachmittag des zweiten Tages ein angenehmer Kontrast zur überhitzten politischen Landschaft Brasiliens. Nur wenige Meter neben dem dröhnenden Verkehrslärm der Metropole umfängt uns die kühle Stille des Botanischen Gartens der Stadt Rio. Hier werden Jugendliche aus sozial schwachen Familien in einem Kooperationsprojekt der Andreas Stihl AG und des Botanischen Gartens zu Gärtnern ausgebildet. „Arbeit in und mit der Natur als Mittel gegen die Perspektivlosigkeit und als Keimzelle eines neuen Umweltbewusstseins, das ist die Idee“, erzählt uns der zuständige Pädagoge.
Nach zahlreichen weiteren Gesprächen über die Veränderungen Brasiliens, die wir unter anderem mit den Korrespondenten verschiedener deutscher Medien in Rio führen, begegnet uns der Umbruch am vierten Tag in besonders plastischer Form: Wir besuchen den Olympiapark im Stadtteil Barra da Tijuca. Waren die zahlreichen Bauprojekte zum Zeitpunkt der Vergabe Olympias gedacht als Manifestation der neuen Rolle Brasiliens in der Welt, als in Stahl und Sichtbeton gegossenes Selbstbewusstsein, fällt die Interpretation nur wenige Jahre später deutlich gespaltener aus: Die Baumaßnahmen machen Rio nachhaltig zu einer moderneren und besseren Stadt für alle, erklärt uns Rios Bürgermeister Eduardo Paes im Gespräch. Sie sind Ausdruck einer neuen Exklusivität der Stadt, resigniert hingegen der Aktivist und Stadtforscher Orlando Santos.
Viele der im Zuge von WM und Olympia ergriffenen Maßnahmen stehen massiv in der Kritik. Die sogenannte Befriedung der Favelas sei richtig gewesen, erläutert Rios Sicherheitschef José Beltrame, die notwendigen Folgemaßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der Situation seien jedoch nicht ergriffen worden. Eine Einschätzung, die uns während der Tage in Rio de Janeiro immer wieder begegnet: Im Gespräch mit den Polizisten der befriedenden Einheiten (UPP) in der Favela Cerro Corá, beim Besuch des zuständigen Menschenrechts-Anwalts Antonio Pedro Soares und in der Favela Maré.
Und auch die Polizei selbst steht massiv in der Kritik. In der größtenteils geräumten Favela Vila Autodromo, deren verbliebene Bewohner heute Tür an Tür mit den Hochglanzbauten des Olympiaparks leben, hören wir Geschichten von rabiaten Räumungsaktionen und massiver Einschüchterung der Menschen durch Polizei und Behörden.
Ob Olympia ökologisch für eine Veränderung zum Positiven gesorgt hat, wollen wir uns einige Tage später gemeinsam mit Dawid Danilo Bartelt von der Heinrich-Böll-Stiftung ansehen. Auf einem Fischerboot werden wir auf die Guanabara-Bucht gefahren, auf der die olympischen Segelwettbewerbe stattfinden werden. Wir sehen tonnenweise Müll an den Ufern der Bucht und riechen den durchdringenden Schwefelgeruch, der vom Wasser unter uns abgesondert wird. Die Reinigung der Bucht galt als großes Ziel des Nationalen Olympischen Komitees und als positives Erbe der Spiele. Ein Ziel, das nicht erreicht wurde. Ein Erbe, das es nicht geben wird.
Nach neun ereignisreichen Tagen voll von informativen Gesprächen mit Experten, Journalisten, Politikern und Bürgern verlassen wir Rio am 9. Mai und fliegen weiter nach São Paulo. Direkt nach der Ankunft werden wir dort von Vertretern der Firma Stadler Anlagenbau in Empfang genommen, die uns zu einer Besichtigung der größten Recyclinganlage der Stadt einladen.
Unsere Ankunft in São Paulo wird wiederum begleitet von Nachrichten, Gerüchten und Spekulationen um den Fortgang des Verfahrens gegen Präsidentin Dilma. Unsere Termine bei der deutschen Außenhandelskammer, bei der Unternehmensberatung Roland Berger und bei der „Protestbewegung für ein freies Brasilien“ sind geprägt von erwartungsvoller Spannung über die Entscheidung des Senats. Regelmäßig füllt sich die zentrale Straße São Paulos, die Avenida Paulista, mit Demonstranten aus den verschiedenen Lagern.
Neben den tagespolitischen Einschätzungen erfahren wir bei unseren Terminen viel über Brasilien und darüber, wie Journalisten hier arbeiten. Ein Frühstück mit investigativen Journalisten liefert uns ebenso spannende Einblicke wie die Begegnung mit dem wohl berühmtesten Blogger des Landes, Leonardo Sakamoto.
Und auch in São Paulo bleibt die Umweltfrage ein zentrales Thema: Der deutsche Architekt Jörg Spangenberg nimmt uns mit auf eine Exkursion in die Urban Gardening-Szene der Stadt und stellt uns seine Vision von farbenfrohen vertikalen Gärten an grauen Hochhausfassaden vor.
In 12 Tagen haben wir dank des vielseitigen Programms und der interessanten Gesprächspartner zahlreiche Facetten Brasiliens kennengelernt. Angesichts der vielen Erkenntnisse fällt es schwer zu glauben, dass wir „nur“ Rio de Janeiro und São Paulo besucht haben. Ausgehend von Olympia und dem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff haben wir mit Menschen gesprochen, deren Einschätzungen uns tief in die Geschichte und die verschiedenen Lebenswirklichkeiten Brasiliens führten. Das riesige Land und seine Menschen sind uns ein großes Stück näher gekommen.
Die Leitfrage „Kann Brasilien noch gewinnen?“ abschließend zu beantworten fällt dennoch schwer. Präsidentin Dilma zumindest gelang im Senat kein Sieg mehr. Am Tag unserer Abreise wurde sie für 180 Tage suspendiert. Die Olympischen Spiele werden nun von ihrem Stellvertreter und Gegner Michel Temer eröffnet. Ob es ihm auch gelingt, Brasilien vom ewigen „Land der Zukunft“ in ein Land der Gegenwart zu verwandeln, bleibt abzuwarten.
Die Reise nach Brasilien wurde organisiert von Stefanie Dodt (freie Journalistin), Larissa Holzki (freie Journalistin) und Michaela Streuff (Hessische Niedersächsische Allgemeine). Unser herzlicher Dank gilt den Förderern der Reise: Heinrich-Böll-Stiftung, Fundação Getulio Vargas, Stadler Anlagenbau und Andreas Stihl AG.