Wohin steuert das Baltikum?
Recherchereise nach Tallinn und Riga im Oktober 2010
„Wohin steuert das Baltikum“ – genauer gesagt, wohin steuern Estland und Lettland? Unter diesem Motto haben wir uns im Oktober auf den Weg gemacht. Nach einer Woche Rundreise sind wir zwar nicht mit einer detaillierten Antwort zurückgekommen, aber mit neuem Wissen, vielen Eindrücken und tollen Kontakten.
Vier Schwerpunkt standen auf dem prall gefüllten Programm: Tallinn als Kulturhauptstadt Europas 2011, die Wirtschaftskrise und ihre Folgen, die Parlamentswahl in Lettland sowie die Energiepolitik der beiden Länder. Schon am ersten Abend bekommen wir bei einem Hintergrundgespräch mit dem deutschen Botschafter in Estland, Dr. Martin Hanz, und der Leiterin der Deutsch-Baltischen Handelskammer in Tallinn, Maren Diale-Schellschmidt, einen ersten Überblick über die wichtigsten Themen und Probleme beider Länder. Die Euro-Einführung im kommenden Jahr und auch die Problematik der Energiegewinnung durch Ölschiefer werden uns in den folgenden Tagen immer wieder begleiten.
Tallinn – Kulturhauptstadt Europas 2011
Dann aber steht erstmal Tallinn als Kulturhauptstadt Europas 2011 im Mittelpunkt. Im Informationszentrum bekommen wir einen ersten Überblick, bevor es weiter geht zum Sängerfest-Gelände. Es gießt in Strömen, aber davon lassen wir uns nicht abhalten. Das weitläufige Gelände mit einer riesigen, muschelförmigen Bühne ist ein wichtiger Ort in der Kulturgeschichte des Landes und auch im nächsten Jahr sollen hier hunderte Jugendchöre im Rahmen der Feierlichkeiten auftreten. Eine Dirigentin erzählt uns aus den früheren Sowjet-Zeiten und stimmt zum Schluss die inoffizielle estnische Nationalhymne an: „Mu isamaa on minu arm“ (Meine Heimat ist meine Liebe).
Der estnische Premierminister Andrus Ansip hat in den 90er Jahren zwar nicht an der so genannten „Singenden Revolution“ teilgenommen, aber auch er nimmt sich viel Zeit für unsere Gruppe. Wirtschaftskrise, Sparmaßnahmen, Euro-Einführung, Energiepolitik und das Verhältnis zu Russland diskutieren wir in seinem Sitzungszimmer im Regierungssitz „Stenbock-Haus“. Besonders beim letzten Thema bedeuten Gesten und Gesprächspausen mehr als jedes Wort.
Erneuerbare Energien oder Verbrennung von Ölschiefer?
Am nächsten Tag stehen die Themen Energiepolitik und „e-Stonia“ auf dem Programm. Energie-Experte Arvi Hamburg gibt uns einen Überblick, danach fahren wir mit Eon-Vertreter Mario Nullmeier zur Transformer-Station des Est-Link-Kabels, über das Estland via Finnland an den nordeuropäischen Strommarkt angeschlossen ist. Im Windpark Aulepa geht es dann um erneuerbare Energien im Kontrast zum Abbau von Ölschiefer, der Estland noch eine große Unabhängigkeit beschert.
Vor allem in der Politik und bei Unternehmern ist die Begeisterung groß für die Euro-Einführung. Man hofft auf ausländische Investitionen und mehr Exporte. Bei der ganzen Begeisterung dürfen aber auch kritische Stimmen nicht fehlen. Ein Besuch beim Wirtschaftswissenschaftler Ivar Raig klärt uns auf: Er warnt vor einem Zusammenbruch der Euro-Zone und vor massiven Nachtteilen für Estland. Den Beitritt hält er für verfrüht.
Am Abend dann ein Highlight der Reise: Der Besuch in der Kommune Uus Maailm (Neue Welt). Das Haus – eine Art Gemeindezentrum – soll den Stadtteil zusammenbringen, jeden Abend wird gemeinsam gekocht, zudem finden Veranstaltungen statt. An diesem Tag ist „Poetry Night“. Die Zuhörer sitzen in einem kleinen Raum auf wenigen Stühlen, viele auf Sitzkissen. Der bekannte ukrainischer Auto Juri Andruchowytsch liest aus seinem Werk. Es wird gesungen. Wir verstehen die Worte nicht, die Begeisterung der Zuschauer ist aber auch für uns greifbar. Danach übernehmen wir die Küche, kochen Abendessen für alle, die noch Hunger haben.
Nach einem Stopp im bekannten Kunstmuseum Kumu verlassen wir die Hauptstadt am nächsten Tag Richtung Tartu, eine Universitätsstadt knapp zwei Stunden entfernt. In Gesprächen mit dem Energieexperten Andres Mäe und dem Historiker Olaf Mertelsmann können wir unsere bisherigen Erkenntnisse überprüfen.
Sparen auf lettisch
Von Tartu geht es dann über die Grenze nach Lettland, genauer gesagt nach Valmiera – ebenfalls eine kleine Universitätsstadt mit etwa 27.000 Einwohnern. Die Wirtschaftskrise hat Lettland besonders hart getroffen. Mit rigiden Sparmaßnahmen versucht die Regierung das Land zurück auf Kurs zu bringen und die Kreditanforderungen des Internationalen Währungsfonds zu erfüllen. Die Zahlen – etwa 30 Prozent Kürzungen im Gesundheitswesen – sind für uns zunächst nur Theorie. Sie werden aber sofort sichtbar im Krankenhaus. Hier finden nur noch medizinisch notwendige Operationen statt, mehrere OP-Säle werden nicht mehr benutzt. Der Ärztemangel in der Region trägt sein Übriges zur Situation bei. Aber weder Ärzte noch Patienten haben bisher gegen die Sparpolitik demonstriert. Das ist nicht die Mentalität der Letten – das lernen wir nicht nur hier. Die Direktorin erklärt: Direkt nach der Unabhängigkeit 1991 sei die Lage noch viel schlimmer gewesen, heute fließe wenigstens Geld aus den EU-Fonds.
Auch an den Schulen im ganzen Land wird gespart. Im letzten Jahr mussten die Lehrer für einige Monate massive Gehaltskürzungen in Kauf nehmen. Wir treffen eine Lehrerin, die seit einigen Jahren jeweils im Sommer für zwei Monate Senioren in Deutschland pflegt, für rund 1000 Euro im Monat – dreimal so viel wie ein lettisches Monatsgehalt für Lehrer. Seit der Krise sei diese Art der Gehaltsaufstockung für sie noch wichtiger geworden, erzählt sie. Doch auch Lehrer gehen hier bislang kaum auf die Straße.
Während viele Betriebe in Lettland die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren bekamen, war das Glasfaser-Werk kaum getroffen. Als Exporteur werden die Geschäfte hauptsächlich im Ausland gemacht und hier boomt es bereits wieder. Man erwartet den gleichen Gewinn wie im Jahr 2008. Im unterirdischen Gasspeicher Inculkans nahe Riga erfahren wir, wie Lettland, Estland, Russland und Litauen in Energiefragen kooperieren.
Am letzten Tag der Reise steht dann die Politik von Premierminister Valdis Dombrovskis im Mittelpunkt. Wir sprechen mit einem Politikexperten, einer Journalistin und Inese Voika von Transparency International – über Korruption, Meinungsfreiheit und das Sparprogramm. Der dänische Wirtschaftswissenschaftler Morten Hansen erklärt uns im Detail die Wirtschaftskrise und den lettischen Sparkurs. Gut vorbereitet treffen wir dann den Premier – in der Bibliothek des Regierungssitzes. Im Gegensatz zu seinem estnischen Amtskollegen ist er nicht so spritzig und launig – aber auch er beantwortet alle unsere Fragen. Dombrovskis ist vorsichtig optimistisch, dass sein Land schneller aus der Krise kommt als bislang erwartet.
Den letzten Termin haben wir im Rathaus von Riga: Der erst 34 Jahre alte Bürgermeister Nils Usakovs berichtet über die Integration der russisch-sprachigen Minderheit, die 37,5 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Dann sind die sieben Tage verflogen, unsere Köpfe voll mit Informationen. Einen besseren Einblick in beide Länder hätten wir uns nicht wünschen können. Wir haben Themenidee und Gesprächspartner gefunden – und werden bestimmt bald wieder ins Baltikum reisen.
Die Reise wurde organisiert von den freien Journalisten Matthias Kolb und Judith Kösters und gesponsert von der Robert Bosch Stiftung, Air Baltic sowie den Tallinner Hotels Schlössle, Telegraaf und Grand Palace Riga.