An der Schwelle einer neuen Zeit: Wer folgt auf die Kirchners?
Recherchereise nach Argentinien im Oktober 2015
Text: Juliane Ziegler – Fotos: Michael Stürzenhofecker
Wer folgt auf Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner in die Casa Rosada, den Präsidentenpalast? Daniel Scioli aus dem Kirchner-Lager oder der Oppositionskandidat Mauricio Macri? Ist ein Neuanfang für das von Korruption und Misswirtschaft geprägte Land möglich? Wie steht es um die Presse- und Meinungsfreiheit im zweitgrößten Staat Lateinamerikas, und wie werden faire Wahlen gewährleistet? Um diese Fragen ging es auf der Recherchereise nach Argentinien vom 2. bis 15. Oktober 2015.
Bei der ersten Fernsehdebatte der Präsidentschaftskandidaten in der Geschichte Argentiniens sprachen wir mit unterschiedlichen Vertretern des politischen Spektrums. Mehrere Treffen mit politischen Akteuren gaben uns einen Einblick in die argentinische Politik. So interviewten wir zum Beispiel den ehemaligen Finanzminister und Präsidentschaftskandidaten Ricardo López Murphy und trafen die Abgeordnete Patricia Bullrich, die den Untersuchungsausschuss um den Anfang des Jahres ums Leben gekommenen Staatsanwalt Alberto Nisman leitet.
Außerdem erklärten uns die jungen Datenjournalisten von „Chequeado“ von ihrer Arbeit: Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche Aussagen, die in der öffentlichen Debatte getroffen werden, zu be- oder widerlegen. Aktivisten von Red Ser Fiscal zeigten uns, wie sie mit zahlreichen ehrenamtlichen Unterstützern dabei helfen, Wahlbetrug zu verhindern. Über die Pressefreiheit in dem Land berichteten uns unter anderem der bekannte Journalist Luis Rosales und Silvana Giudici von der Nichtregierungsorganisation Fundacuion LED. Der Wirtschafts-Experte Augustin Etchebarne vom liberalen Think Tank libertad y progreso sprach über Wirtschaftsreformen. Über das Verhältnis von Politik und Justiz klärte uns der Richter Ricardo Rojas auf. Mit ihm sprachen wir auch über die Möglichkeit, weiche Drogen zu legalisieren, um den Handel einzudämmen.
Darüber hinaus gab uns der Botschaftsempfang zum Tag der Deutschen Einheit die Möglichkeit, uns mit zahlreichen Stiftungsvertretern, Korrespondenten und argentinischen Akteuren auszutauschen. Die Leiterin der deutsch-argentinischen Handelskammer, Barbara Konner, informierte über die Situation für Unternehmen in dem Land.
Die Preissteigerung ist eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf. Auf den neuen Präsidenten wird die Aufgabe zukommen, die Währung abzuwerten und gleichzeitig die leeren Staatskassen in den Griff zu bekommen. Wir erlebten ein Land, das vierzehn Jahre nach der Staatspleite erneut in einer Wirtschaftskrise steckt und unter Inflation leidet – mit einem florierenden illegalen Devisenhandel.
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Argentinien nach wie vor stark auseinander: Wir besuchten Menschen in verschiedenen Villas – Armenvierteln – von Buenos Aires, erfuhren von ihren Lebensumständen, Hoffnungen und was sie von dem neuen Präsidenten erwarten.
51 Millionen Rinder stehen auf den Weiden und Steppen im Land, das argentinische Rindfleisch ist eines der wichtigsten Exportprodukte. Wir fuhren raus aus Buenos Aires in die argentinische Pampa, wo wir eine Rinderauktion miterlebten: Etwa 150 Züchter waren dorthin gekommen, die Züchtung der Casa Mú gilt als eine der besten des Landes. Doch für viele Bauern lohnt sich die Viehzucht nicht mehr; deshalb hat ein Großteil in den vergangenen Jahren angefangen, Soja anzubauen. Inzwischen ist Argentinien nach den USA und Brasilien der drittgrößte Sojaproduzent weltweit – was viele Umstellungen im Land mit sich brachte. Ein Biobauer erzählte uns von den Problemen der intensiven Landwirtschaft, Aktivisten ließen uns an ihrer Aufklärungsarbeit an Schulen teilnehmen. So lag ein weiterer Fokus der Journalistenreise neben der Präsidentenwahl auf der Landwirtschaft Argentiniens. Deshalb trafen wir uns auch mit Landwirten, die ihre Felder konventionell bewirtschaften und unter hohem technischen Einsatz hohe Erträge erzielen.
Im kommenden Jahr jährt sich der Beginn der Militärdiktatur zum vierzigsten Mal. Wie und in welcher Form findet die Aufarbeitung dieser Zeit statt? Darum ging es im Gespräch mit Nora de Cortinas, der Vorsitzenden der „Madres de la Plaza de Mayo“. Ihr Sohn ist seit der Diktatur verschwunden, daher dreht sie im Gedenken an ihn gemeinsam mit anderen Müttern jede Woche vor dem Präsidentenpalast ihre Runden.
Neben diesen anregenden und interessanten Gesprächen und Terminen blieb trotz des dichten Programms dennoch die Möglichkeit, das kulturelle und kulinarische Leben Argentiniens zu erleben: Wir besuchten große Tangoshows sowie kleine Milongas und genossen ausgiebige traditionelle Asados.
Die Reise wurde organisiert von Lukasz Tomaszewski (Funkhaus Europa, WDR) und Michael Stürzenhofecker (ZEIT ONLINE). Unterstützt wurde sie von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, der Bayer AG, der Daimler AG, KLM/Air France, Wintershall und der Stiftung Presse-Haus NRZ.