Mit liebenden Augen und exklusivem Blick

Gespräch mit Charlotte Wiedemann im April 2012 in Berlin

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Fotos: Klaus Heymach

Charlotte Wiedemann hat als Auslandsjournalistin in den letzten 15 Jahren 22 muslimisch geprägte Länder bereist. Im Hintergrundgespräch am 18. April 2012 erzählte sie von ihrer Arbeit und sprach über die Perspektiven des Auslandsjournalismus.

Charlotte Wiedemann zählt zu den erfahrensten und profiliertesten freien Auslandsreporterinnen Deutschlands. Sie arbeitete zunächst als politische Korrespondentin und Redakteurin in Deutschland und lebte von 1999 bis 2003 in Malaysia. Aus dem südostasiatischen Raum verfasste sie Reportagen für die Weltwoche und GEO. Seit acht Jahren zieht es die Journalistin vor allem in „islamische Lebenswelten“, sie schrieb zahlreiche Reportagen aus Nordafrika, der Türkei, Saudi-Arabien, Syrien, Pakistan und dem Iran.


Charlotte Wiedemann im Gespräch

Was ist besonders an deiner journalistischen Herangehensweise?

Ich mache fast nie etwas Exklusives. Ich will nicht nach einem exklusiven Thema suchen müssen, das ich dann geheim halte, schnell bearbeite und gut platziere, um es an die große Glocke zu hängen. Ich habe einen anderen Ansatz von Exklusivität. Meine Texte sollen gut, möglichst besser sein als andere, und sie sind aus meiner ganz persönlichen Sichtweise verfasst. Mein Blick auf die Welt ist exklusiv – genauso wie natürlich der Blick jedes anderen Reporters exklusiv ist. Bloß gibt es im Journalismus viele Tendenzen, die eine gleichmachende Wirkung haben, und viele Journalisten erlauben sich keinen individuellen Blick mehr. Sie leihen sich eine vermeintliche Objektivität, die man besser „den Mainstream“ nennt. Das ist bequem, denn nicht der Mainstream muss sich rechtfertigen, sondern nur was jenseits davon ist.

Zuletzt warst du für die ZEIT im Jemen unterwegs. Wie genau bist du bei diesem Reportageprojekt vorgegangen?

Ich hatte den Jemen bereits 2005 besucht und wollte nun vor den Wahlen untersuchen, welche von den gesellschaftlichen Veränderungen, die während der Revolution sichtbar geworden sind, wohl dauerhaft sein könnten. Das ist so ein typisch amorphes Thema, das mich reizt. Damit meldete ich mich bei der ZEIT in Hamburg. Die Redaktion klärte zunächst ab, ob der Nahost-Büroleiter Michael Thumann auch etwas im Jemen vorhatte. Da das nicht der Fall war, bekam ich den Auftrag. Ich kurbelte also meine Kontakte von 2005 wieder an und fand dadurch eine Dolmetscherin. Ein Presse-Visum zu bekommen, dauerte vier Wochen. Während dieser Zeit sammelte ich über in Berlin lebende Jemeniten Kontakte zu Familien.

Gleich bei meiner Ankunft in Sanaa wurde ich vom Informationsministerium vorgeladen. Man wollte mir einen Mann als Begleiter mitgeben, also als Aufpasser. Ich erklärte den Beamten, dass es mit einem Mann im Schlepptau zu schwierig sein würde, in Familien zu gelangen und Frauen zu interviewen. Also einigten wir uns auf eine „private soziologische“ Recherche ohne Begleiter.

Was für ein Land hast du bei deiner Recherche vorgefunden?

Anders als ich gedacht hatte, war die Lage im Jemen überhaupt nicht ruhig. Es gab jeden Tag Demonstrationen, die sich gegen die alte korrupte Garde richteten. Ich habe schnell gemerkt, dass mein analytisches Konzept nicht hinhauen würde. Außerdem war ich selbst emotional sehr beeindruckt von der Wucht der Proteste gegen die international vereinbarten Amnestie-Regelungen für den scheidenden Präsidenten Saleh, ich empfand vieles im Jemen als sehr tragisch, so viele waren gestorben für so wenig Veränderung, und das wollte ich auch transportieren. Ich habe dann sehr breit Material gesammelt, um sowohl analytische Stimmen als auch Action einzufangen.

Will man jenseits der gängigen Berichterstattung recherchieren, zählt vor allem der richtige Zeitpunkt. Es gibt Zeiten, in denen nur Bürgerkriegserstattung möglich ist, wie zuletzt in Libyen. Dabei nähren sich Journalisten von spärlich gesäten Fakten und sind vor allem damit beschäftigt, sich um ihre eigene Sicherheit zu kümmern. In Tunesien und Ägypten bin ich für GEO erst nach den Umstürzen gewesen, um über die sogenannte Zweite Revolution, den Kampf um Demokratie, zu schreiben. Ich bin ungeeignet als Kriegsreporterin. Dafür bin ich zu zurückhaltend und habe zu viel Angst.

Wie gehst du typischerweise bei der Recherche vor und was für Quellen benutzt du?

Ich verwende selten die journalistischen Produkte anderer. Hilfreicher sind für mich wissenschaftliche Quellen oder Online-Informationsportale wie sie etwa zu den arabischen Revolten auf Facebook eingerichtet wurden. Natürlich darf man keiner Quelle allein vertrauen.

Auf Reportagereisen schreibe ich jeden Abend meine Notizen ins Reine, sortiere sie und checke was noch fehlt. Dabei fällt mir vieles ein, was ich bei den Gesprächen nicht niedergeschrieben habe.

Ich unterziehe meine Arbeit also einer ständigen Selbstkontrolle. Ich möchte meine Recherche in der mir zur Verfügung stehenden Zeit so vollständig wie möglich machen. Dafür arbeite ich viel mit Listen, zum Beispiel einer „Aspekte“-Liste: Was spielt für die Erfassung der Realität eine Rolle? Habe ich genügend Gesprächspartner aus verschiedenen Richtungen? Am Ende bringe ich haufenweise Notizen mit, die ich in „Skripten“ zusammenfasse. Diese Skripte werden Teil meines Archivs, auf das ich auch später wieder zurückzugreifen kann.


Zur Erfassung der Realität braucht es einen möglichst weiten Blick auf die Menschen. Wie gelingt es dir, in fremden Ländern Kontakte zu allen Schichten aufzubauen?

In der Regel arbeite ich nicht mit Fixern. Meine Dolmetscherin im Jemen aber war sehr gut vernetzt und hatte selbst einen aktivistischen Hintergrund. Manchmal musste ich sie deshalb bremsen, um meine Recherche nicht zu sehr in eine Richtung zu drängen.

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Es ist oft so, dass man als Ausländerin zunächst in die gebildeten, „aufgeklärten“ Schichten hineingezogen wird. Hier gilt es, aktiv dagegen zu arbeiten und auch andere Perspektiven kennen zu lernen.

Im Iran beispielsweise wird Armut sehr stark verborgen. Dort ist schwieriger, zu ärmeren Familien nachhause zu gehen. Im Jemen hingegen ist Armut viel offensichtlicher als im Iran. Aber letztendlich hängt vieles auch vom Reporterglück ab. Einige sehr interessante Gesprächspartner im Jemen habe ich förmlich auf der Straße gefunden.

Und dann lädt man dich als Journalistin sofort zu sich nach Hause ein?

Es ist tatsächlich so, dass wir bei uns viel gastunfreundlicher sind. In vielen Ländern wird man eher in eine Familie eingeladen als in Deutschland. Wir müssen eher uns selbst fragen: Warum tun wir das nie? Die Menschen, die mich einladen, tun das aus einer kulturell verankerten Gastfreundschaft heraus. Gleichzeitig sind sie schlichtweg neugierig zu erfahren, was ich von ihnen will und sie haben ein Bedürfnis sich auszusprechen.

Im Jemen wollte ich beispielsweise einen Professor interviewen. Das Gespräch sollte eine halbe Stunde dauern, ich wollte von ihm allgemeine landeskundliche Infos haben. Stattdessen lud er mich zu einer traditionellen Qat-Runde in sein Haus ein. Als ausländische Frau habe ich in so einer Männerdomäne eine gewisse Geschlechtsneutralität. Von eins bis sieben saß ich in dieser Runde, das war auch anstrengend. Im Jemen sind die Häuser für einer Frau offener als für einen Mann, im Oman ist es auch für eine Frau schwierig.

Wie war der Kontakt zur ZEIT-Redaktion während deiner Reise?

Wir hatten abgemacht, dass ich mich jeden dritten Tag mit einer SMS melden würde. Als ich damit irgendwann aufgehört habe, kam auch keine Reaktion aus Hamburg. Solange ich reise, interessiert es überhaupt keinen, was ich dort treibe. Es zählt einfach nur, dass das Produkt später gut ist.

Aber es klingt ja schon so, als würde die ZEIT gezielt dich in den Jemen schicken?

Die Initiative ging ja von mir aus. Aber man weiß bei mir in der Regel, dass ich auch in verwickelten und undurchsichtigen Situationen mit einem verständlichen Text zurück komme. Deshalb komme ich mit meinen amorphen Themenvorschlägen durch. Jemen ist ein unheimlich kompliziertes Land, da ist es schwierig, einen verständlichen und zugleich schönen Text zu schreiben. Ich habe ganz ordentlich an dieser relativ kleinen Reportage herumgeschwitzt. Nach meiner Rückkehr hatte ich telefonisch mit der Redaktion abgesprochen, wie meine Reportage aussehen würde.

Wie sah der Text dann aus?

Ich habe versucht, möglichst viele Facetten aufzuzeigen. Meine Jemen-Reportage nannte jemand in der Redaktion ein „Mobilé“. Sie besteht aus komplementären Szenen, die sich gegenseitig ausgleichen. Ich gebe dem Leser keine Schlussfolgerung, die muss er selbst ziehen.

Darf man fragen, wie so eine Geschichte honoriert wird?

Für die einseitige ZEIT-Reportage sollte ich 1200 Euro bekommen, schlussendlich haben wir uns auf 1500 Euro geeinigt. Die Reisekosten wurden von der Redaktion übernommen. Die letzten zwei Tage im Hotel habe ich selbst bezahlt, um eigene Recherchen für anderweitige Verwendung anzuhängen. Dabei sind eine Analyse zum Thema „Emanzipation“ für die „Monde Diplomatique“ und eine Langzeitbeobachtung für die Zeitschrift „Inamo“ entstanden. Für beide Stücke konnte ich wiederum zum Teil auf mein Recherche-Material von 2005 zurückgreifen. Natürlich kann ich aber auf einer Reise, die von der ZEIT bezahlt wird, nicht auch noch für die FAZ oder SZ schreiben. Früher habe ich solche Mehrverwendungen gar nicht gemacht. Aber die Honorare sind heute insgesamt schlechter, lange Recherchen werden seltener adäquat bezahlt. Übrigens musste ich mir auch das Belegexemplar der ZEIT selbst am Kiosk kaufen.

Mit der Honorarfrage sprichst du eine Tendenz im Auslandsjournalismus an. Wie schätzt du denn die Lage des Auslandsjournalismus insgesamt ein?

Vor einigen Jahren gab es noch größere Etats für Auslandsreportagen. Redaktionen waren stärker davon überzeugt, dass es sich lohnt, Schreiber mit Erfahrung und Ausbildung ins Ausland zu schicken und nicht etwa auf Blogger zu vertrauen. Heute gibt es jedoch viel mehr Möglichkeiten, sich auf Eigeninitiative zu informieren und zu vernetzen. Insgesamt führt das eher zu einer Entprofessionalisierung des Auslandsjournalismus. Zum Teil wird die Berichterstattung von Stiftungen übernommen. Man wird ja zurzeit praktisch zugeschüttet mit Berichten über die muslimischen Länder. Das kann niemand mehr alles lesen. Das soll aber nicht heißen, dass darunter nicht auch sehr gute aber eben keine journalistischen Produkte sind.

Der Auslandsjournalismus wird einerseits finanziell ausgeblutet, andererseits interessieren sich viele junge Menschen schon zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn dafür. Es kämpfen mehr Menschen um einen kleiner werdenden Kuchen. Kürzlich ging es in einer Diskussion darum, ob Journalisten in Kriegsgebieten ein Sattelitenhandy benötigen. Meiner Meinung nach ist das ein Überlebenswerkzeug und es grenzt an eine Menschenrechtsverletzung, wenn Redaktionen ihren Freien in Krisenzeiten so etwas nicht zur Verfügung stellen. Die verschärfte Konkurrenz führt dazu, dass sich die Schreiber gegenseitig unterbieten und dadurch das ganze Niveau immer weiter herunterziehen. Das ist freilich nicht die Schuld des Einzelnen, aber führt in der Summe zu einer verhängnisvollen Entwicklung.

Worin liegt für dich der Wert im Auslandsjournalismus?

Die Zeit, die ich im Auslandsjournalismus gearbeitet habe, habe ich im Vergleich zu meinen Jahren im Inlandsjournalismus als viel befriedigender und würdevoller empfunden. Natürlich ist es ein intellektueller Luxus sich 14 Tage die gesellschaftlichen Entwicklungen des Jemen anschauen zu können. Hierzulande werden Journalisten als Störenfriede empfunden. In den Ländern hingegen, die ich bereise, wird mir großes Vertrauen entgegengebracht. Dabei schwingen aber auch große Erwartungen mit. Was ich letztendlich mit einem Artikel bewegen kann, ist daran gemessen sehr gering.

Gerade in der Berichterstattung über muslimische Länder ist man beständig Teil der Ost-West-Auseinandersetzung, jener zum Teil völlig absurden Polarisierung. Man ist ständig Teil von Bemühungen, irgendwie Verständnis herzustellen.

Trotz eines bemühten Journalismus und vieler intelligenter Stimmen, auch seitens von Islamwissenschaftlern, gibt es bei uns einfach eine sehr fest verankerte Islam-Skepsis. Da kann ich noch so viele Reportagen schreiben. Zum Teil sind es diese eigentlich gebildeten Leser, die mich dann bei einem Abendempfang fragen, ob Islam und Islamismus nicht das gleiche sei. Da frage ich mich schon manchmal, was das ganze eigentlich soll. Aufklärung ist immer schwieriger als Verdummung.

Wo sind diese Vorstellungen und Vorurteile denn beheimatet? In den Redaktionen oder beim Leser?

Es gibt viele, die nicht schreiben, was sie denken, sondern Texte produzieren, um die Erwartungen ihres Chefredakteurs zu erfüllen. Das gilt sowohl für den Inlands- als auch für den Auslandsjournalismus. Ich würde das die „Schere im Kopf“ nennen. Dies ist nicht die Schere eines Informationsministeriums, sondern eine Mischung aus geistiger Bequemlichkeit beim Ausarbeiten der journalistischen Produkte und einer Angst, sich aus dem Schutz des Mainstreams hervorzuwagen. Es geht gar nicht so sehr um den Leser. Viel wichtiger sind die Vorurteile, die in den Redaktionen herrschen. Als freier Journalist ist es nicht immer einfach, die Reflexe des Redakteurs, der deinen Text in Empfang nimmt, zu überwinden. Ein Text sollte stilistisch möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Ich redigiere meine Texte immer sehr sorgfältig durch, im Zweifelsfall fünfmal, damit sie wirklich „fertig“ sind. Dann wird daran auch in der Regel kaum etwas geändert.

Wie überzeugst du denn die Redaktionen überhaupt, eine „Gegenerzählung“ abzudrucken?

Das Wort „Gegenerzählung“ ist mir zu groß, zu anmaßend. Aber will man etwas jenseits der „großen Erzählungen“ schreiben, darf man nicht diskutieren, sondern muss es einfach machen. Natürlich kündige ich in den Redaktionen nicht an, dass ich etwas abseits des Mainstreams schreiben möchte.

Über eine Iran-Reportage von mir meinte ein Redakteur, ich reiste „mit liebenden Augen“ durch die Region. Das war als Vorwurf gemeint. Jeder Frankreich-Korrespondent ist ein Frankreich-Liebhaber und lebt bis zu seinem Ruhestand davon, Frankreich-Liebhaber zu sein und Bücher darüber zu schreiben. Das ist kulturell und professionell akzeptiert. Aber mit liebenden Augen durch den Iran zu reisen ist ein schweres Manko. Die Iraner lieben es, in Dichterzitaten zu reden. Ich kam sehr poetisiert von der Iran-Reise zurück, was nicht unbedingt schlecht für die eigene Sprache ist. „Ihre Sprache ist zu poetisch“, hieß es dann aus der Redaktion. Über den Iran schreibt man schließlich in den Termini der Atomdebatte, im Vokabular der Krisenmanager. Mit solchem Widerstand muss man lernen umzugehen. Im Endeffekt wurde auch diese Reportage kaum geändert. Aber meine Anpassungsbereitschaft war schon zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn nicht sehr ausgeprägt. Ich komme aus der Linken und habe ein starkes Bewusstsein dafür, dass diese Welt verändert gehört. Ich hatte immer das Bedürfnis, mich durch meinen Journalismus auch selbst auszudrücken.

Was sind diese „großen Erzählungen“, von denen du sprichst?

Ich will ein Beispiel geben, das in den letzten Monaten verstärkt aufgetaucht ist: Das ist die Meinung, die arabischen Revolutionen seien ganz stark von Frauen gemacht worden. Kurz hinterher konnte man dann überall lesen, dass die Frauen wieder unterdrückt würden. Das ist klassisch: Die eine Übertreibung zieht die nächste mit sich.

Natürlich sind die Revolutionen auch von Frauen gemacht worden, aber man kann nicht sagen, dass sie immer überall in der ersten Reihe gestanden hätten. Wenn man erst mal die erste Übertreibung gemacht hat, kann gleich die nächste Geschichte über die Unterdrückung folgen.

In beiden Fällen würde ich für mehr Differenzierung plädieren. Man kann sich diesen Mechanismus auch wie eine Kameraeinstellung vorstellen, die bestimmte Dinge aus ihrem Kontext herausreißt. Ich bin davon überzeugt, dass es sich beim Schreiben am besten differenzieren lässt. Deshalb schreibe ich.

Aufgezeichnet von Marian Brehmer.

Von Charlotte Wiedemann ist erschienen: „Ihr wisst nichts über uns. Meine Reisen durch einen unbekannten Islam“ (Herder). Im Herbst 2012 erschien „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Als Journalistin zwischen den Kulturen“ (Papyrossa).