Brasiliens Boom: Strohfeuer oder Zeitenwende

Recherchereise nach Rio, Belo Horizonte und Sao Paulo im Januar 2013

Text: Jan Mallien

Favela-Kunst

Foto: Pauline Tillmann

Unser Besuch in der größten Favela Rios beginnt an einer Seilbahnstation. Ein Menschenpulk drängt sich vor den Gondeln an der Station im Complexo do Alemão. Aus Lautsprechern wird klassische Musik gespielt. Fast ist es wie an den musikalischen U-Bahnhöfen in München. Mit einem Unterschied: Hier im Menschenpulk vor der Gondel steht ein Polizist mit kugelsicherer Weste und Maschinenpistole.

Der Besuch im Complexo do Alemão ist die letzte Station unserer Brasilien-Reise vom 19. bis 29. Januar 2013. Mit 12 Journalisten erkunden wir in zehn Tagen die drei größten Städte des Landes: Belo Horizonte, Sao Paulo und Rio de Janeiro. Für Ökonomen gehört Brasilien zu den neuen Stars der Weltwirtschaft. Unter der Überschrift „Brasiliens Boom: Strohfeuer oder Zeitenwende?“ wollen wir rausfinden, was dahinter steckt.

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Vor drei Jahren wäre es noch unmöglich gewesen, den Complexo do Alemão überhaupt zu betreten. Das Rote Kommando – die mächtigste Drogenbande Rios – hatte das Leben in der Favela fest im Griff. Die Polizei traute sich, wenn überhaupt, nur für Kurzeinsätze ins Viertel. Ohne Polizei aber gab es auch keine Stromversorgung, Schulen, Kindergärten oder Krankenstationen. Inzwischen ist das Viertel zu einem Beispiel für die Befriedung von Favelas geworden. Seit 2010 versucht die brasilianische Regierung Schritt für Schritt die Oberhand in den Problemvierteln zurückzugewinnen. Dabei spielen die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spielen in Rio 2016 eine wichtige Rolle. Brasilien will sich dort der Welt von seiner besten Seite präsentieren.

Im November 2010 stürmten Spezialeinheiten der Marine den Complexo do Alemão und vertrieben die Drogen-Banden. An ihre Stelle trat Anfang 2012 die Friedenspolizei UPP. Wir sprechen mit Michell Oliveira, einem Offizier der UPP. In der Polizeistation zeigt er uns Bilder von dem Tag, als das Militär kam. Panzer und Hubschrauber sind zu sehen und Soldaten, deren Gesichter mit Tarnfarben bemalt sind. Sie tragen Schutzwesten und schwere Waffen. Früher sei die Polizei nach jedem Einsatz wieder abgezogen, sagt Oliveira. „Jetzt ist das anders. Wir sind gekommen um zu bleiben.“ Die Polizisten führen uns zum Knowledge-Square, einem zentralen Platz wo inzwischen ein Ausbildungszentrum und ein 3D Kino stehen. Früher war dies der größte Umschlagsort für Drogen in Rio.

Der Knowledge-Square ist ein Vorzeigeobjekt, genauso wie die mehr als 100 Millionen Euro teure Gondelbahn. Insgesamt gelten jedoch nur 20 von etwa 900 Favelas in Rio als befriedet. Vor allem sind es Viertel in zentralen Lagen und in der Nähe olympischer Sportstätten. Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGO’s), mit denen wir sprechen, sehen die Befriedungspolitik weniger euphorisch. Teilweise würden Favela-Bewohner enteignet, weil ihre Häuser in der Nähe von Sportstätten liegen.

Auch an der WM lassen sie kein gutes Haar. In Sao Paulo sprechen wir mit Felipe Saboya von der Ethos-Stiftung, einer NGO, die sich für eine transparente WM einsetzt. Sie finanziert sich aus Mitteln des Siemens-Konzerns, der im Zuge seines eigenen Korruptionsskandals zu einer Spende für Anti-Korruptionsprojekte verdonnert wurde. Saboya kritisiert die mangelnde Transparenz bei der WM-Planung. In einer Studie hat die Ethos-Stiftung die WM-Standorte im Hinblick auf ihre Transparenz verglichen. Nur zwei erhielten das Urteil „ausreichend“ – alle anderen fielen durch. Sein Kritikpunkt: Die Intransparenz führt dazu, dass die brasilianische Gesellschaft nicht von der WM profitiert.

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Über Probleme beim Stadionbau können wir uns in Belo Horizonte ein Bild machen. Dort besuchen wir das WM-Stadion Estádio Mineirão. Obwohl es bereits einen Monat vor unserem Besuch von der brasilianischen Präsidentin eingeweiht worden war, wirkt es noch wie eine Baustelle. Überall treffen wir auf Arbeiter mit Helm und Blaumann. Aus dem Stadiondach läuft das Wasser. Die Frauen müssen auf die Herren- Toiletten ausweichen, weil es auf den Damen-Toiletten noch keinen Wasseranschluss gibt. Eine Woche nach unserer Rückkehr fand im Stadion das erste Spiel statt. Sogar in deutschen Zeitungen war zu lesen, dass es dabei drunter und drüber ging.

Rein wirtschaftlich hat die WM für Brasilien keine allzu große Bedeutung. Viel entscheidender ist die Entwicklung der Rohstoffpreise. Brasilien exportiert eine sehr breite Palette unterschiedlicher Rohstoffe: Eisenerz, Kupfer, Soja, Öl und Gas. Die hohe Rohstoff-Nachfrage aus China hat dem Land einen hohen Zufluss an Devisen beschert. Das ist einerseits ein Segen. Andererseits setzt es aber auch die brasilianische Industrie unter Druck, wie uns Thomas Kunze von Roland Berger erklärt. Durch die Rohstoffexporte ist der Wechselkurs der brasilianischen Währung Real in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen. Dadurch verlieren brasilianische Exporteure an Wettbewerbsfähigkeit, weil ihre Produkte im Ausland teurer werden.
Dennoch gibt es in Brasilien auch industrielle Leuchttürme. Vor den Toren Sao Paulos besuchen wir das Werk des brasilianischen Flugzeugbauers Embraer. Das Unternehmen ist Weltmarktführer bei mittelgroßen Jets bis 120 Passagieren.

Von Sao Paulo aus fahren wir mit dem Nachtbus nach Angra dos Reis. Viele Brasilianer verbringen in der Stadt zwischen Rio und Sao Paulo ihren Urlaub. Wir schauen uns dort das einzige Atomkraftwerk Brasiliens an. Auf dem Gelände zwischen Tropenwald und Atlantik stehen zwei aktive Atomreaktoren. In einer Halle lagert außerdem seit fast 30 Jahren der Bausatz für einen dritten Reaktor.Er wurde 1984 aus Deutschland geliefert. In der Halle sind rechts und links Metallregale aufgebaut. In den Fächern liegen Holzkisten, Rohre und in Folie verpackte Geräte. Auf manchen von ihnen sind Messgeräte für die Luftfeuchtigkeit angebracht. Das Kuriose ist: Die Brasilianer wollen die Kisten jetzt auspacken und den Reaktor aufbauen. Bis 2016 soll er fertig werden. Hundert Meter entfernt von der Halle steht bereits das Betonfundament.

Nach dem AKW-Besuch kommt ein Hitzeschock. Unglücklicherweise hat nämlich der Bus, der uns von Angra nach Rio bringen soll, mitten in der Sonne geparkt. Als wir einsteigen zeigt das Thermometer 46 Grad an. Sofort wird die Klimaanlage angeschaltet, aber die Temperatur will einfach nicht fallen. Im Nachhinein hat die Tortur ihr Gutes: Schweißgebadet legen wir einen Zwischenstopp am Strand ein. Nach einer Abkühlung im Atlantik und einem Fußballmatch gegen ein paar Brasilianer geht die Fahrt weiter. Rio ist der Anfangs- und Endpunkt unserer Reise. Am letzten Abend sind wir beim deutschen Konsul zu einer Feier eingeladen.

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Steht Brasilien nun vor einer Zeitenwende? Verglichen mit China und Indien sind die Wachstumsraten eher bescheiden. Das liegt vor allem daran, dass das Land schon sehr viel weiter entwickelt ist. Es ist eine gefestigte Demokratie und hat viele Ähnlichkeiten mit den westlichen Ländern. Durch Fußball-WM und Olympiade kann es sich nun aber aus dem Schatten anderer Schwellenländer lösen.

Die Reise wurde organisiert und begleitet von Frauke Niemeyer (ARD Aktuell/rbb Fernsehen) und Alexander Thoele (Swiss Info). Wir bedanken uns bei unseren Sponsoren Allianz, Roland Berger Strategy Consultants, Kärcher und der Andreas Stihl AG.