EURO 2012: Mehr als Fußball

Recherchereise nach Polen und die Ukraine im Januar/Februar 2012

Text: Silke Offergeld – Fotos: Pauline Tillmann

bild_1_osteuropa-2012Vier Monate sind es noch bis zum Anpfiff der Fußball-Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine und eine selbst für diese Region ungewöhnliche Kältewelle legt sich gerade über beide Länder – und doch erweist sich der Termin für die journalists.network-Reise dorthin als perfekt gewählt. Denn gerade jetzt ist das Warschauer Nationalstadion endlich fertig geworden und feiert einen Tag nach der Ankunft der jn-Gruppe seine Eröffnung, mit Auftritten bekannter polnischer Bands und einem riesigen Feuerwerk.

Was, wie sich herausstellt, allerdings nicht fertig geworden ist: die Einlasspässe für alle akkreditierten Journalisten. Während der eine Teil der Journalistengruppe also in der VIP-Lounge des Stadions, in der noch der Baustaub auf dem Parkett liegt, der Pressekonferenz lauscht, steht der andere Teil zusammen mit einer Reihe polnischer Kollegen bei zweistelligen Minusgraden vor einem Container an und wartet darauf, dass der Ausweis aus dem Drucker kommt.

Straffes Programm: 5 Städte in 9 Tagen

Seit Bekanntgabe der UEFA-Entscheidung, das Turnier erstmals seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Osteuropa zu vergeben, kämpfen die ausrichtenden Länder der „EURO 2012“ gegen den Vorwurf an, sie seien nicht in der Lage, das Großereignis zu stemmen. Einen Eindruck davon zu bekommen, wie weit die Vorbereitungen für das Turnier tatsächlich sind, wie die Stimmung ist und wie die Zusammenarbeit beider Länder funktioniert, war Ziel der jn-Reise. Außerdem wollten wir der Frage nachgehen, was die beiden Länder eigentlich miteinander verbindet – außer dass sie das Turnier gemeinsam austragen. Die Reise führte in neun Tagen durch die fünf Städte Warschau, Lublin, Przemysl, Lemberg und Kiew, durchzogen von einem eng getakteten Programm voller Gespräche mit Politikern, Funktionären, Wissenschaftlern und Journalisten vor Ort. Die Akkreditierungs-Ausfälle am Nationalstadion waren da am Ende nur noch ein kleiner Mosaikstein im großen Ganzen.

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Zu einem vollständigen Bild trägt unter anderem Joanna Mucha bei. Sie ist seit Herbst 2011 polnische Sportministerin und war vor ihrem Amtsantritt vor allem bekannt durch Fotoshootings und ihr schönes Gesicht. Seit ihrem Amtsantritt kennt man sie auch dafür, Gesprächsmitschnitte veröffentlicht zu haben, die die Günstlingswirtschaft im polnischen Fußballverband entlarven.

Und dann ist da Michal Piotrowski, Pressesprecher der staatlichen Infrastrukturgesellschaft für das Turnier „PL.2012“, der erst eine aufwändig gestaltete Internetplattform vorstellt, die Fans bei der Planung von Anreise, Unterkunft und Reiseprogramm helfen soll und nachdrücklich darauf verweist, dass man Ende 2012 die Schnellstraßen-Kilometer im Land um 260 Prozent gesteigert haben werde. Das sei natürlich nach der EM – aber man investiere in Polen eben in ohnehin nötige Infrastruktur, da sei es nicht weiter schlimm, wenn ein paar Dinge erst später fertig seien. Polen, das wird in Warschau aber grundsätzlich klar, will mit der EM endlich als „normales europäisches Land“ anerkannt werden.

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Straßen und Reichweite der Internetseite „PolishGuide“ enden allerdings dort, wo die Gruppe später von Waldemar Skarbek, dem stellvertretenden Kommandanten für den Abschnitt bei Medyka / Schegini – dem wichtigsten Übergang in die Ukraine – empfangen wird: an der EU-Außengrenze. Hier ist greifbar, was es bedeutet, ein Großereignis nicht nur über Ländergrenzen, sondern über Grenzen eines Staatenverbundes hinaus zu organisieren. Tickets für Fußballspiele als Passersatz? Dafür müsste das Schengener Abkommen geändert werden. Realistisch seien zwei bis vier Stunden für den Übertritt, schätzt Skarbek. Seine Mannschaft wird Unterstützung bekommen aus anderen EU-Staaten – die Ukrainer nicht. Seine Bitte an die Fans: nicht erst unmittelbar vor den Spielen anreisen.

Warum eine Zusammenarbeit zwischen Polen und der Ukraine keinesfalls selbstverständlich ist, hatte zuvor Wojciech Janicki, Wirtschaftsgeograph an der Maria-Sklodowska-Curie-Universität Lublin, eindrücklich erklärt: Der Osten des heutigen Polen und die Westukraine gehörten zwar einst als Galizien zum Habsburgischen Reich, die gemeinsame Geschichte fand aber einst ein blutiges Ende. Und am Ende der beiden Weltkriege war die Region Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ukrainern.

HIV-Problem in der Ukraine immer noch besorgniserregend

Die erste Station in der Ukraine ist für die Gruppe Lwiw (Lemberg). Auch hier wird eifrig gebaut, an Straßen und am Flughafen, das neue Stadion ist längst fertig. Und auch hier werden auf das Turnier als beschleunigendes Moment für Wirtschaft und Tourismus zwar große Hoffnungen gesetzt, aber man bleibt auf dem Boden der Tatsachen: „Wir planen keinen kurzfristigen Profit durch die EURO, sondern die langfristige Entwicklung der Stadt“, erklärt Oleg Zasady, EM-Koordinator für Lwiw. Selbst die modernen Stadien sind am Ende womöglich mehr als ein für lokale Clubs eigentlich überdimensioniertes Schmuckstück: Durch sie, das hoffen sowohl Offizielle als auch Fans vor Ort, könnte sich Fußball auch in der Ukraine als Familienevent etablieren.

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Mit dem Nachtzug geht es nach sieben Tagen zur letzten Station der Tour: Kiew, Hauptstadt der Ukraine. Im Höhlenkloster „Pertscheskaja Lawra“ blicken die Journalisten am Ende der neuntägigen Reise in die orthodoxe Seele des Landes. Nebenan gibt die Ärztin Svetlana Antoniak Einblick in die Probleme, mit denen die Ukraine im Alltag kämpft: Da ist zum einen die Aids-Epidemie, die nur langsam eingedämmt werden kann – dabei ist die HIV-Ansteckungsrate in der Ukraine so hoch wie in keinem anderen europäischen Land. Und da ist zum anderen die Geschichte der Aids-Klinik selbst, einem der renommiertesten Institute des Landes, das derzeit um seinen Erhalt bangen muss, weil es eine privilegierte Lage in der Stadt hat – was offenbar nicht jedem gefällt. Verantwortliche des Klosters spielen demnach mit dem Gedanken, das Gelände zu verkaufen. Im modernen Kiew, so empfinden es die Mitarbeiter der Klinik, tickt inzwischen selbst die Kirche eher kapitalistisch als karitativ.

Und wie wird die „EURO 2012“ für die Besucher? „Wie es wird, wissen wir erst, wenn das erste Spiel vorbei ist“, sagt Vize-Kommandant Skarbek. Im Ruhrgebiet zitiert man in Sachen Vorbereitung gerne Fußball-Legende Alfred „Adi“ Preißler: „Grau is alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz.“ Die Reise wert sind beide Ausrichterländer allemal, ob nun vor, während oder nach der EM – vorausgesetzt, man ist offen für neue Perspektiven und vielleicht die eine oder andere Überraschung.

Organisiert wurde die journalists.network-Reise vom 28. Januar bis 5. Februar 2012 nach Polen und die Ukraine von Pauline Tillmann (freie Korrespondentin in Russland) und Friedel Taube (Deutsche Welle). Wir danken der METRO Group, ALPINE Bau und Roland Berger herzlich für die finanzielle Unterstützung.